Huxley: Da draußen ist mehr, als wir erfahren können

Aldous Huxley schreibt in „Die Pforten der Wahrnehmung – Meine Erfahrungen mit Meskalin“ über seinen Selbstversuch mit dem Rauschmittel Meskalin. Er schildert seine Eindrücke und Gefühlswelten, die sich erheblich von denen unterscheiden, die er im nüchternen Zustand erlebt.

Aldous HuxleyZur Person: Der dystopische Roman „Schöne neue Welt“, der bis heute beklemmende Parallelen zu gesellschaftlichen Entwicklungen beinhaltet, machte den britischen Schriftsteller Aldous Leonard Huxley weltberühmt. In seinen Romanen untersuchte und kritisierte Huxley gesellschaftliche Sitten, Ideale und Normen und den möglichen Missbrauch wissenschaftlicher Errungenschaften durch den Menschen. Die Werke seiner früheren Schaffensphase können als eher humanistisch motiviert gelten. Später wandte er sich vor allem spirituellen Themen zu, wie Parapsychologie und mystische Philosophie.
(Quelle: Wikipedia)

Huxley stellt eingehend die Frage, inwieweit die Gefühlswelten aller Menschen gleich sind: „Wie können geistig Gesunde je erfahren, was für ein Gefühl es eigentlich ist, wahnsinnig zu sein? Oder wie können wir, wenn wir nicht eben ein Visionär, ein Medium oder ein musikalisches Genie sind, je in die Welten gelangen, in denen Blake, Swedenborg, Johann Sebastian Bach sich bewegten?“ (S. 12). Auf der Suche nach Antworten entscheidet er sich, im Selbstversuch Meskalin einzunehmen, dessen Wirkung er im Folgenden schildert.

„Ich schluckte meine Pille um elf Uhr. Eineinhalb Stunden später saß ich in meinem Arbeitszimmer und blickte angespannt auf eine kleine Glasvase. Die Vase enthielt nur drei Blumen […] Beim Frühstück an diesem Morgen war mir die lebhafte Disharmonie seiner Farben aufgefallen. Aber auf sie kam es nicht länger an. Ich blickte jetzt nicht auf eine ungewöhnliche Zusammenstellung von Blumen. Ich sah, was Adam am Morgen seiner Erschaffung gesehen hatte – das Wunder, das sich von Augenblick zu Augenblick erneuernde Wunder bloßen Daseins“ (S. 15).

Blumen

Offensichtlich eröffnet der Einfluss des Droge Huxley völlig neue Bewusstseinszustände, die ihm die Konzentration auf vermeintlich triviale Dinge ermöglichen und deren ästhetische Wirkung ganz anders wahrnehmen lassen. Während Blumen die Raumatmosphäre verändern, kann sich Huxley voll und ganz auf den dahinterliegenden Effekt einlassen. Als er vom begleitenden Experimentator gefragt wird: „Ist es angenehm?“, entgegnet Huxley: „Weder angenehm noch unangenehm […] Es ist“ (S. 15).

„(Plato) konnte nie gesehen haben, wie Blumen aus ihrem eigenen inneren Licht heraus leuchteten und so eine große Bedeutung erlangten, dass sie unter dem Druck erbebten, der ihnen auferlegt war; er konnte nie wahrgenommen haben, dass das, was Rose und Schwertlilie und Nelke so eindringlich darstellten, nichts mehr und nichts weniger war, als was sie waren – eine Vergänglichkeit, die doch ewiges Leben war, ein unaufhörliches Vergehen, das gleichzeitig reines Sein war, ein Bündel winziger, einzigartiger Besonderheiten, worin durch ein unaussprechliches und doch selbstverständliches Paradoxon der göttliche Ursprung allen Daseins sichtbar wurde“ (S. 15/16). Die bloße Existenz der Blumen, die sich als organische Lebewesen ganz ihrem Dasein zuwenden, fasziniert den Schriftsteller über die Maßen. Gleiches gilt für eine Reihe an Büchern, die im selben Raum stehen: „alle Farben waren so intensiv, so zutiefst bedeutungsvoll, dass sie nahe daran zu sein schienen, die Regale zu verlassen, um sich meiner Aufmerksamkeit noch eindringlicher bemerkbar zu machen“ (S. 17).

Huxley macht auf eine völlige Veränderung der Wahrnehmung für Raum und Zeit aufmerksam. Sein Fokus liegt auf den Dingen an sich, die mit einer vorher nicht realisierten Existenzberechtigung in seine Sinne treten: „Für gewöhnlich befasst sich das Auge mit Fragen wie: Wo? – Wie weit? – Position in Beziehung zu was? Bei dem Meskalinexperiment gehören die aufgeworfenen Fragen, auf die das Auge antwortet, einer anderen Kategorie an. Lage und Entfernung verlieren stark an Interesse, und der Geist macht seine Wahrnehmungen in Begriffen der Daseinsintensität, der Bedeutungstiefe, der Beziehungen innerhalb einer bestimmten Anordnung. Ich sah die Bücher, aber ich kümmerte mich keineswegs um ihren Platz im Raum. Was ich bemerkte, was sich meinem Geist einprägte, war die Tatsache, dass alle von lebendigem Licht erglühten und dass in einigen die Herrlichkeit offenkundiger war als in anderen.“ (S. 17).

Zeit als alltägliches Regulativ scheint Huxley im Rauschzustand keinerlei Bedeutung beizuwohnen: „Sie scheint reichlich vorhanden zu sein“, war alles, was ich antwortete, als der Experimentator mich aufforderte, ihm zu sagen, was für ein Gefühl ich bezüglich der Zeit hätte. Reichlich viel – aber genau zu wissen, wieviel, was völlig belanglos“ (S. 18).

Interessanterweise scheint die Sinneswahrnehmung aber auch im Meskalinrausch nur bei kurzen bis mittleren Distanzen verändert. Denn als Huxley mit dem Experimentator im späteren Verlauf des Experiments einen Ausflug zu einem Aussichtspunkt unternimmt, kann er kaum eine unterschiedliche Wahrnehmung feststellen: „Nach ein paar Minuten waren wir zu einem Aussichtspunkt in den Bergen hinaufgelangt, und die Stadt lag ausgebreitet zu unseren Füßen. Ziemlich enttäuschend war es, dass sie ganz wie die Stadt aussah, die ich bei anderen Gelegenheiten gesehen hatte. Was mich betraf, war die Verklärung proportional zur Entfernung. Je näher die Dinge waren, desto göttlicher waren sie verwandelt“ (S. 47).

Reduktionsfilter lassen uns blind werden

Im Zusammenhang mit der veränderten Wahrnehmung nimmt Huxley bezug auf den Philosophen C. D. Broad, der maßgeblich an der Entwicklung der Emergenztheorie beteiligt war und die These verfechtete, dass unser Gehirn nur einen geringen Teil der tatsächlich wahrnehmbaren Welt an unser Bewusstsein heranließe.

„Wenn ich über mein Erlebnis nachdenke, muss ich dem Philosophen C. D. Broad in Cambridige beipflichten, „dass wir gut daran täten, viel ernsthafter, als wir das bisher zu tun geneigt waren, die Theorie zu erwägen, die Bergson in Zusammenhang mit dem Gedächtnis und den Sinneswahrnehmungen aufgestellte, dass nämlich die Funktionen des Gehirns, des Nervensystems und der Sinnesorgane hauptsächlich eliminierend arbeiten und keineswegs produktiv sind. Jeder Mensch ist in jedem Augenblick fähig, sich all dessen zu erinnern, was ihm je widerfahren ist, und alles wahrzunehmen, was irgendwo im Universium geschieht. Es ist die Aufgabe des Gehirns und des Nervensystems, uns davor zu schützen, von dieser Menge größtenteils unnützen und belanglosen Wissens überwältigt und verwirrt zu werden, und sie erfüllen diese Aufgabe, indem sie den größten Teil der Informationen, die wir in jedem Augenblick aufnehmen oder an die wir uns erinnern würden, ausschließen und nur die sehr kleine und sorgfältig getroffene Auswahl übriglassen, die wahrscheinlich von praktischem Nutzen ist“ (S. 19). „Manche Menschen jedoch scheinen mit einer Art von Umgehungsvorrichtung geboren worden zu sein, welche den Reduktionsfilter ausschaltet. Andere vermögen zeitweilig Umgehungsvorrichtungen entweder spontan oder als Ergebnis bewusst durchgeführter „geistiger Übungen“, mittels Hypnose oder eines Rauschmittels zu erwerben“ (S. 20).

Wie wirkt Meskalin?

Huxley führt die Ergebnisse von bisherigen Experimenten mit Meskalin zusammen und konstatiert, dass folgende Feststellungen überall deckungsgleich sind:

  1. „1. Die Fähigkeit, sich zu erinnern und folgerichtig zu denken, ist, wenn überhaupt, nur wenig verringert. […]
  2. Visuelle Eindrücke sind erheblich verstärkt, und das Auge gewinnt einiges von der Fähigkeit zu unbefangener Wahrnehmung zurück, die es während der Kindheit besaß, als das durch die Sinne Wahrgenommene nicht sogleich und automatisch einem Begriff untergeordnet wurde. Das Interesse für Räumliches ist verringert und das Interesse für die Zeit sinkt fast auf den Nullpunkt.
  3. […] Wer Meskalin nimmt, fühlt sich nicht veranlasst, irgend etwas zu tun, für ihn sind die meisten Anlässe, bei denen er zu gewöhnlichen Zeiten zu handeln und zu leiden bereit wär, äußert uninteressant. Er lässt sich durch sie nicht aus der Ruhe bringen, und zwar aus dem guten Grund, dass er nämlich über Besseres nachzudenken hat.
  4. Dieses Bessere kann (wie in meinem Fall) „dort draußen“ oder aber „hier drinnen“ erlebt werden, oder in beiden Welten, der inneren und der äußeren, gleichzeitig oder nacheinander“ (S. 21)

Wahrnehmungshorizont abhängig von der Person

Aldous Huxley macht darauf aufmerksam, dass es durchaus Menschen gibt, die auch im nüchternen Zustand die Fähigkeit besitzen, die Dinge genauer, spezieller und vielsagender wahrzunehmen. Dies ist absolut plausibel, bedenkt man alleine die sich verändernde Wahrnehmung von Realitäten im Laufe eines Menschenlebens. Ältere Menschen nehmen viele Dinge schließlich völlig anders wahr als Kinder – und sei es nur aufgrund eingeschränkter körperlicher Funktionen.

„Meskalin verleiht allen Farben erhöhte Kraft und Tiefe und bringt dem Wahrnehmenden unzählige feine Schattierungen ins Bewusstsein, für die er zu gewöhnlichen Zeiten völlig blind ist […] Wie die Menschen, die Meskalin nehmen, gewahren auch viele Mystiker übernatürlich lebhafte Farben, und zwar nicht nur mit dem inneren Auge, sondern auch in der gegenständlichen Welt. Ähnliches berichten medial veranlagte und sehr sensible Menschen“ (S. 23).

Das „biologisch oder soziologisch Nützliche“ hat laut Huxley für die meisten Menschen vorrang vor den tiefliegenden Informationen in der Welt. Hier gibt es eine starke Überschneidung mit Heideggers Differenzierung von rechnendem und nach-denkendem Denken:

„Faltenwurf, wie ich nun entdeckt hatte, ist viel mehr als ein Kunstmittel, um abstrakte Formen in naturalistische Gemälde und Skulpturen hineinzunehmen. Die Fähigkeit, jederzeit das zu sehen, was wir übrigen nur unter dem Einfluss von Meskalin sehen, ist dem Künstler angeboren. Seine Wahrnehmung ist nicht auf das biologisch oder soziologisch Nützliche beschränkt. Etwas von der dem totalen Bewusstsein eigenen Erkenntnis sickert durch den Reduktionsfilter von Gehirn und Ich in sein Bewusstsein“ (S. 27).

Macht Transzendenz lebensunfähig?

Faulheit

Überzeugt von den bewusstseinserweiternden Fähigkeiten des Meskalins stellt Huxley weiterführend die Frage, ob ein normales Leben in diesen Bewusstseinszuständen überhaupt möglich ist: „Wie war diese purifizierte Wahrnehmung mit einer angemessenen Pflege menschlicher Beziehungen in Einklang zu bringen, mit den notwendigen täglichen Verrichtungen und Pflichten, ganz zu schweigen von liebender Barmherzigkeit und tätigem Mitleid? […] (Meskalin) gewährt Zugang zur Kontemplation – aber zu einer Kontemplation, die mit Tätigkeit, ja sogar mit dem Willen, etwas zu tun, wenn nicht bereits mit dem Gedanken daran unvereinbar ist“ (S. 33).

Demnach lässt sich im Rauschzustand keine Alltagspraxis ermöglichen, die den notwendigen gesellschaftlichen und überlebensdienlichen Verpflichtungen gerecht werden kann. Nichtsdestotrotz kann Huxley dem etwas abgewinnen, wenn er schreibt: „Der einseitig auf Kontemplation ausgerichtete Mensch lässt vieles ungetan, was er tun sollte, jedoch um das auszugleichen, hält er sich auch zurück und tut viele Dinge nicht, die ihm verboten sind. Die Summe des Bösen, so sagt Pascal, würde sich sehr verringern, wenn die Menschen nur lernen könnten, ruhig in ihren Zimmern zu sitzen. Der Kontemplative, dessen Wahrnehmungsverögen von allem Ballast befreit wurde, braucht nicht in seinem Zimmer zu bleiben“ (S. 35).

Aus Sicht einer negativen Ethik ist dieser Zustand also gar nicht mehr so lebensfremd, da er zum Unterlassen von gesellschaftsschädigenden Verhaltensweisen führt.

Künstliche Paradiese seit Menschengedenken

Rauchen

„Dass die Menschheit als Ganzes je imstande sein wird, ohne künstliche Paradiese auszukommen, ist sehr unwahrscheinlich. Die meisten Menschen führen ein schlimmstenfalls so beschwerliches, bestenfalls so eintöniges, armseliges und beschränktes Leben, dass der Drang, ihm zu entfliehen […] immer gewesen ist“ (S. 48), erklärt Huxley gegen Ende seines Erfahrungsberichts. Er verweist auf die Naturvölker, aber auch auf „zivilisierte“ Nationen, in denen Rauschmittel schon immer eine Rolle gespielt hätten. Die bewusstseinserweiternde Wirkung von Pflanzen und Früchten sei seit den Ursprüngen des Menschen bekannt und systematisch genutzt worden.

In der westlichen Hemisphäre sei die Vielfalt der Mittel durch Prohibition allerdings stark eingeschränkt worden: „Für den uneingeschränkten Gebrauch hat der Westen nur Alkohol und Tabak erlaubt. Alle anderen chemischen Türen in der Mauer ragen das Schild „Rauschgift“, und wer sie unerlaubt benützt, wird als „Süchtiger“ gebrandmarkt“ (S. 49). Inwieweit diese Verbote auch politische Hintergründe hatten – gar eine Angst vor bewusstseinserweiternden Wirkungen in der Bevölkerung zulasten von Produktivität oder Machtlegitimation – ist unklar, wahrscheinlicher ist es, dass wirtschaftliche Interessen vor dem Hintergrund von Handelsbeziehungen im Vordergrund standen, wie das Hanf-Verbot aus dem 19. Jahrhundert belegt.

„Wir geben heutzutage eine ganze Menge mehr für Trinken und Rauchen aus als für Unterricht und Erziehung. Das ist natürlich nicht überraschend. Der Drang zur Flucht aus seinem Selbst und seiner Umwelt ist in fast jedem Menschen fast jederzeit vorhanden“ (S. 49), erinnert Huxley. Und tatsächlich lässt sich eine heutige Welt ohne Alkohol, ohne Glücks- oder Computerspiele, ohne Unterhaltungsmedien, kaum denken. Doch in Verboten sieht Aldous Huxley keine sinnvolle Methode, um den gefährlichen Seiten dieser Verhaltensweisen zu begegnen: „Der allgemeine und immer vorhandene Drang zur Selbstüberschreitung lässt sich nicht durch das Zuschlagen der gegenwärtig beliebtesten Türen in der Mauer beseitigen. Das einzig vernüftige Vorgehen wäre, andere, bessere Türen zu öffnen und zu hoffen, dasss die Menschen dadurch zu bewegen sein werden, ihre alten, schlechten Gewohnheiten gegen neue und weniger schädliche zu tauschen“ (S. 50).

Chemische Ferien als Ritual?

Huxley rät zu einer Legitimation, gar zu einer Pflicht zum Erleben transzedentaler Zustände. Diese Utopie formuliert er folgendermaßen: „Unser Ziel ist es, zu entdecken, dass wir schon immer dort waren, wo wir sein sollen. Leider machen wir uns diese Aufgabe äußert schwer […] In einem Bildungs- und Erziehungssystem, das realitätsnäher und den Worten weniger verhaftet ist als das unsere, hätte jeder Engel […] eine Sonntagserlaubnis, ja er würde sogar gedrängt und wenn nötig gezwungen werden, durch eine chemische Tür in der Mauer hin und wieder einen Ausflug in die Welt transzendentalen Erlebens zu unternehmen“ (S. 61).

Diese Haltung spiegelt sich auch in seinen abschließenden Worten wieder, indem er daran appelliert die positiven Seiten der Bewusstseinserweiterung schätzen zu lernen:

„Wer durch die Tür in der Mauer zurückkommt, wird nie wieder ganz derselbe Mensch sein, der durch sie hinausging. Er wird weiser sein, aber weniger selbstsicher, glücklicher, aber weniger selbstzufrieden, demütiger im Eingeständnis seiner Unwissenheit und doch besser ausgerüstet, die Beziehung zwischen Worten und Dingen, zwischen systematischem vernunftgemäßem Denken und dem unergründlichen Geheimnis zu verstehen, das er mit eben jeder Vernunft ewig vergeblich zu begreifen versucht“ (S. 61/62).

Bewusstseinstor

Du bist, was du erlebst

Mir wurde bei der Lektüre von Huxleys Schrift noch bewusster, wie stark die Gemütslage des Menschen von den Eindrücken abhängig ist, denen er ausgesetzt ist. Die Kunst, etwa in Form von Malerei und Musik, prägt unser Denken und beeinflusst dieses maßgeblich. Doch im Alltag sind allzu oft rationale Filter aktiv, die viele Facetten des Erfahrbaren ausblenden und uns dazu bringen, das Augenmerk auf Dinge zu richten, von denen wir glauben, sie seien jetzt wichtig. Obgleich dies auch eine Überlebensfähigkeit sicherstellt, engt uns diese Sicht doch ein. Wie viel gelassener könnten wir mit dem Leben umgehen, wenn wir seine Wunder bewusster wahrnehmen und Alltagsprobleme somit keinen zu großen Stellenwert einnehmen. Wer die kleinen Dinge zu schätzen weiß, sieht sich nicht gezwungen nach einem Mehr von etwas zu streben, von dem wir gar nicht wissen, ob es uns ebenso glücklich macht.

Zeit – Gegenwart – Moment – Augenblick

Zeit Augustinus

Bei der Lektüre von Prechts Philosophiegeschichte bin ich heute bei einem Abschnitt hellhörig geworden, in dem es um „Zeit“ geht – genauer gesagt um Augustinus‘ Gedankenkonstrukt von Zeit.

AugustinusZur Person: Als einer der einflussreichsten Theologen und Philosophen der christlichen Spätantike bzw. der Patristik hat Augustinus das Denken des Abendlandes wesentlich geprägt. […]
Augustinus war zunächst Rhetor [ein Redner oder – als Theoretiker – ein Lehrer der Beredsamkeit] in Thagaste, Karthago, Rom und Mailand. Unter dem Einfluss der Predigten des Bischofs Ambrosius von Mailand ließ er sich 387 taufen; von 395 bis zu seinem Tod 430 war er Bischof von Hippo Regius. (Quelle: Wikipedia)

Kommen wir direkt zur Prechts gut ausformulierter Interpretation:

Tatsächlich existiert, nach Augustinus, Zeitnur dadurch, dass jemand ein Bewustsein von Zeit hat. Dieses subjektive Zeitempfinden ist übrigens immer nur eine Zeit: nämlich die Gegenwart.

Selbst wenn ich an die Vergangenheit oder an die Zukunft denke, denke ich gegenwärtig an die Vergangenheit oder Zukunft.

Zeit ist stets hier und jetzt. Oder mit Augustinus gesagt: Es gibt „Gegenwart von Vergangenem, Gegenwart des Gegenwärtigen und Gegenwart des Zukünftigen. Denn diese drei sind in der Seele, und anderswo sehe ich sie nicht. Gegenwart des Vergangenen ist die Erinnerung, Gegenwart des Gegenwärtigen die Anschauung, Gegenwart des Zukünftigen die Erwartung“.

Für die Philosophiegeschichte ist Augustinus‘ Definition der Zeit von höchster Bedeutung. Der griechische Begriff von >>Zeit<< war fast duchgängig ontologisch. Zeit wurde als etwas >>an sich<< Seiendes verstanden, selbst wenn Aristoteles einräumen musste, dass diese objektive Zeit immer nur relativ erfahrbar ist. Augustinus geht sogar noch ein ganzes Stück über Aristoteles hinaus, wenn er Zei zu einer rein subjektiven Sache erklärt, nämlich zu einem Bewusstseinsinhalt.

Für Augustinus hatte diese Beobachtung einen theologisch wichtigen Kern. Es gibt nämlich keine zwei Zeiten, eine irdisch vorhandene und eine ewige göttliche. Es gibt göttliche Zeitlosigkeit auf der anderen Seite. Die Kluft, die beides trennt, trennt mehr als nur zwei Welten: Sie trennt das Vergängliche und Unwesentliche des irdischen Menschenlebens von der über alle Zeit erhabenen ewigen Vollkommenheit Gottes.“


Quelle: David Richard Precht, Eine Geschichte der Philosophie, 2015, S. 396, Wilhelm Goldmann Verlag

Zeit treibt uns manchen Tages durch den Alltag. Wir planen unsere Tagesabläufe, nehmen uns „Zeit für etwas“. Doch sind die Zeiteinheiten, in denen wir Zeit verstehen, überhaupt gleichwertig? Kann ich mir „2 Stunden nehmen“ für etwas und es ist egal, WANN ich mir diese Zeit nehme? Oder ist Zeit nicht vielmehr abhängig davon, ob ich mir morgens 2 Stunden nehme, anstatt abends? Ob ich diese Zeit konzentriert nutze (bzw. nutzen kann) oder abgelenkt bin? Die Quantifizierung von Zeit in 24 Stunden oder 7 Tage oder X Jahre ist gefährlich. Denn dies verkennt, dass gewisse Stunden eines Tages womöglich wertvoller bzw. „anders“ sind als andere. Dass gewisse Lebensphase mehr bergen, als andere, dass es eben nicht egal ist, wann ich mir Zeit für etwas „nehme“.

Vielleicht ist „Zeit nehmen“ an sich schon nicht möglich. Die Zeit muss mir den Bewusstseinszustand und die Eingebung geben, um gewisse Dinge zufriedenstellend zu tun.

Herzerwärmend

Deine Kraft macht trunken
Dein Herz aus Gold
Wer hat dich aus dem Hut geholt

Bewegst dich sanft
Steigerst konfus
Quält und schmerzt bei jedem Kuß

Seltsame Ruhe
Der Weg bleibt dein Geheimnis
Unbekannter Kurs
Kompaß schlägt nach allen Seiten
Setzt zielsicher deinen Fuß
Deinen Fuß bis zum Schluß

Verführe mich
Gnadenlos
Gönn mir keinen Aufschub
Gewähr mir keinen Trost
Laß es einfach um mich geschehn
Du weißt, wie Wunder gehn

Tauchst mich ein
In ein Meer aus Samt
Du faßt dich unverantwortlich an

Fisch im Netz
Bleibt auf Distanz
Ein Wimpernschlag reicht voll und ganz

Ich träume laut
In elektrischen Abgründen
Kein Weg heraus
Lässt mich den kleinen Tod finden
Setzt das hier und jetzt
Außer Betrieb, außer Betrieb
Ich lebe

Verführe mich
Gnadenlos
Gönn mir keinen Aufschub
Gewähr mir keinen Trost
Laß es einfach um mich geschehn
Du weißt, wie Wunder gehn

Schick mich durch
Dein Erfindungsreich
Lieb mich leer
Mach mich dem Erdboden gleich
Laß es einfach um mich geschehn
Du weißt, wie Wunder gehn

Heidegger: Technik-Visionär… und -hasser?

„Wir sind zu einer Gedenkfeier für unseren Landsmann, den Komponisten Conradin Kreutzer, versammelt“ beginnt Martin Heidegger seine Festrede, die als Schrift „Zur Erörterung der Gelassenheit – Aus einem Feldweggespräch über das Denken“ veröffentlicht wurde.

HeideggerZur Person: Zu den bekanntesten deutschen Philosophen der Neuzeit gehört Martin Heidegger, der mit seinem Hauptwerk „Sein und Zeit“, die philosophische Richtung der Fundamentalontologie begründete. Die wichtigsten Ziele Heideggers waren die Kritik der abendländischen Philosophie und die denkerische Grundlegung für ein neues Weltverständnis. In die Kritik gerät Heidegger immer wieder aufgrund seiner Verbindung zu den deutschen Nationalsozialisten.
(Quelle: Wikipedia)

Heidegger nutzt den Anlass der Gedenkfeier für seine schnell abstrakt werdende Gedenkrede: „Aber ist die Feier […] eine Gedenkfeier? Zu einer Gedenkfeier gehört doch, dass wir denken“ (S. 10). Er bezieht sich auf die Bedeutung von „Denken“ an sich und geht in die Offensive: „Machen wir uns nichts vor. Wir alle, eingeschlossen diejenigen, diegleichsam von Berufs wegen denken, wir alle sind oft genug gedanken-arm; wir alle sind allzu leicht gedanken-los. Die Gedankenlosigkeit ist ein unheimlicher Gast, der in der heutigen Welt überall aus- und eingeht. Denn man nimmt heute alles und jedes auf dem schnellsten und billigsten Weg zur Kenntnis und hat es im selben Augenblick ebenso rasch vergessen“ (S. 11).

Damit fällt Heidegger ein strenges Urteil, indem er die zunehmende Trivialität der heutigen Kommunikation bemängelt. Heidegger argumentiert, dass wir nur gedanken-arm sein können, weil wir überhaupt denken können – und letztes zunehmend vernachlässigen: „Der heutige Mensch ist auf der Flucht vor dem Denken“ (S. 12).

Weiterführend unterscheidet Heidegger in das rechnende Denken und das besinnliche Nachdenken. Er beschreibt den Zeitgeist folgendermaßen: „Wir rechnen im voraus auf bestimmte Erfolge. Dieses Rechnen kennzeichnet alles planende und forschende Denken. […] Das rechnende Denken kalkuliert. Es kalkuliert mit fortgesetzt neuen, mit immer aussichtsreicheren und zugleich billigeren Möglichkeiten […] Das rechnende Denken ist kein besinnliches Denken, kein Denken, das dem Sinn nachdenkt, der in allem waltet, was ist“ (S. 12/13).

Heidegger
„Es kalkuliert mit fortgesetzt neuen, mit immer aussichtsreicheren und zugleich billigeren Möglichkeiten“

Heidegger kritisiert die zunehmende Rationalisierung und Ökonomisierung des Lebens, ein tiefgründiges Nachdenken bleibe auf der Strecke, wenn es nicht dem Maxim der Nützlichkeit diene: „Das bloße Nachdenken schwebt doch unversehens über der Wirklichkeit. Es verliert den Boden. Es taugt nichts für die Bewältigung der laufenden Geschäfte. Es bringt nichts ein für die Durchführung der Praxis“ (S. 13).

Dabei sei das besinnliche Nachdenken keineswegs abgehoben oder kompliziert, es fange schon bei der Vergegenwärtigung der Gegenwart an: „So brauchen wir denn auch beim Nachdenken keineswegs hochhinaus. Es genügt, wenn wir beim Naheliegenden verweilen und uns auf das Nächstliegende besinnen: auf das, was uns, jeden Einzelnen hier und jetzt, angeht; hier: auf diesem Fleck Heimaterde, jetzt: in der gegnwärtigen Weltstunde“ (S. 14).

Raubt uns die Technik die Heimat?

Der deutsche Philosoph zeigt sich besorgt um Trends wie Urbanisierung, denn er befürchtet den Verlust und die Entfremdung von der eigenen Heimat: „Zahllose andere […] wandern gleichwohl ab, geraten in das Getriebe der großen Städte, müssen in der Öde der Industriebezirke sich ansiedeln. Sie sind der alten Heimat entfremdet“ (S. 15).

grossstadt
Sind wir bereits in das „Getriebe der großen Städte“ gekommen?

Sodann widmet er sich den Medien, die die Menschen immer mehr in ihren Bann ziehen und sie davon abhalten, sich der tatsächlichen, erfahrbaren Realität auszusetzen: „Und die in der Heimat Gebliebenen? Vielfach sind sie noch heimatloser als die Heimatvertriebenen. Stündlich und täglich sind sie an den Hör- und Fernsehfunk gebannt. Wöchentlich holt sie der Film weg in ungewohnte, oft nur gewöhnliche Vorstellungsbezirke, die eine Welt vortäuschen, die keine Welt ist. Überall ist die Illustrierte Zeitung greifbar. All das, womit die modernen technischen Nachrichteninstrumente den Menschen stündlich reizen, überfallen, umtreiben – all dies ist dem Menschen heute bereits viel näher als das eigene Ackerfeld rings um den Hof, näher als der Himmel überm Land, näher als der Stundengang von Tag und Nacht, näher als Brauch und Sitte im Dorf, näher als die Überlieferung der heimatlichen Welt“ (S. 15)

Wie nah sind wir noch dran, an der Realität?

Betrachtet man den Text aus heutiger Sicht, muss man Heidegger eine hohe Fähigkeit des vorausschauenden Denkens attestieren. So hat das Internet in kürzster Zeit den Mediumkonsum intensiviert und das Bild von auf Smartphones starrenden Menschen ist zum Sinnbild unserer technischen Modernisierung geworden.

Atomzeitalter: Atombombe gar nicht die größte Bedrohung

Atomzeitalter
Für Heidegger ist die Vernichtung der Menschheit durch eine Bombe gar nicht die größte Bedrohung, die die Menschheit fürchten muss…

Heidegger äußert sich zur Entwicklung der Atombombe und der Atomenergie, die von der Wissenschaft damals noch in den höchsten Tönen gelobt wurde. Doch die Vernichtung der Menschheit durch eine Bombe ist für Heidegger gar nicht die größtmögliche Bedrohung: „So haben im Juli dieses Jahres achtzehn Noblpreisträger auf der Insel Mainau in einem Aufruf wörtlich erklärt: Die Wissenschaft – d. h. hier die moderne Naturwissenschaft – ist ein Weg zu einem glücklicheren Leben des Menschen. Wie steht es mit dieser Behauptung? Entspringt sie einer Besinnung? Denkt sie jemals dem Sinn des Atomzeitalters nach? Nein. Wenn wir uns durch die erwähnte Behauptung der Wissenschaft zufriedenstellen lassen, dann bleiben wir von einer Besinnung auf das gegenwärtige Zeitalter so weit entfernt als nur möglich. Warum? Weil wir vergessen, nachzudenken. Weil wir vergessen, zu fragen: Worauf beruht es denn, dass die wissenschaftliche Technik neue Energien in der Natur entdecken und freisetzen konnte?“ (S. 17).

Worauf beruht diese Technik? Auf philosophischem Nachdenken oder rationalem Fortschrittsdenken? Kann der Ingenieur alle Faccetten einer Technologie mitdenken?

Die Natur als Tankstelle

Martin Heidegger verlangt nach einer neuen Philosophie der Technik, die sich der Gefahr des allein rechnenden Denkens entgegenstellt: „Jetzt erscheint die Welt wie ein Gegenstand, auf den das rechnende Denken seine Angriffe ansetzt, denen nichts mehr soll widerstehen können. Die Natur wird zu einer einzigen riesenhaften Tankstelle, zur Energiequelle für die moderne Technik und Industrie“ (S. 18).

industrie
Wie weit darf der Mensch gehen? Wann sind die „Tanks der Natur“ ausgebeutet?

Auch hier muss man Heidegger – retroperspektiv betrachtet – hellseherische Fähigkeiten bescheinigen: „Die Entwicklung der Technik wird indes immer schneller ablaufen und nirgends aufzuhalten sein“ (S. 19). Betrachtet man die letzten Jahrzehnte aus heutiger Sicht (2017), hat sich die Technologie tatsächlich exponentiell weiterentwickelt und beschleunigt.

Zu einer zentralen Erkenntnis in der Gedenkrede Heideggers gehört zweifellos folgender Ausspruch: „Eines ist es, dass wir etwas gehört und gelesen haben, d. h. es bloss kennen; ein anderes ist es, ob wir das Gehörte und Gelesene erkennen und d. h. bedenken“ (S. 20). Gerade heute, in Zeiten von Fake News und Alternativen Fakten, ist es wichtig zu unterscheiden, welche Dinge wahr sind und welche Dinge wir lediglich für wahr halten. Die Seriösität von Informationen und deren Quellen ist zweifelsohne zu einer entscheidenden Frage im Informationszeitalter avanciert.

Im Atomzeitalter bedroht: Die Bodenständigkeit menschlicher Werke

Gleich zwei mal zitiert Heidegger den deutschen Schriftsteller Johann Peter Hebel, der im 18. Jahrhundert schrieb: „Wir sind Pflanzen, die – wir mögen’s uns gerne gestehen oder nicht – mit den Wurzeln aus der Erde steigen müssen, um im Äther blühen und Früchte tragen zu können“.

wurzeln
Bodenständigkeit hat für Heidegger einen essentiellen Wert: Wie tief sind wir noch verwurzelt mit der Natur?

Diese Analogie fügt sich genau in Heideggers Bild von der Verbundenheit des Menschen zur Realität, zur Natur. Wer seine Heimat, seinen Nährboden verliert, kann nicht überdauern. „Unversehens sind wir jedoch so fest an die technischen Gegenstände geschmiedet, dass wir in die Knechtschaft zu ihnen geraten“ (S. 22), warnt Heidegger.

Gelassenheit zu den Dingen entwickeln

Doch bei aller Kritik gibt es für Heidegger auch eine Möglichkeit, mit dem technischen Fortschritt umzugehen: „Wir können ja! sagen zur unumgänglichen Benützung der technischen Gegenstände, und wir können zugleich nein! sagen, insofern wir ihnen verwehren, dass sie uns ausschließlich beanspruchen und so unser Wesen verbiegen, verwirren und zuletzt veröden“ (S. 22/23).

Insofern wir ihnen verwehren, dass sie uns auschließlich beansprungen. Schaut man sich die gegenwärtige Situation in allen Gesellschaftsschichten an, so würde ich mich sehr dafür interessieren, was der Martin heute formulieren würde. Inzwischen verbringen die Menschen schließlich täglich sehr viel Zeit mit technischen Geräten, allen voran Smartphone und Laptop. Oder hat er auch diese Intensität vorausgeahnt?

Martin Heidegger schließt mit der Warnung, dass der Mensch sich dazu positionieren müsse, denn sonst „hätte der Mensch sein Eigenstes, dass er nämlich ein nachdenkendes Wesen ist, verleugnet und weggeworfen. Darum gilt es, dieses Wesen des Menschen zu retten. Darum gilt es, das Nachdenken wach zu halten“ (S. 25).

Nachdenken

*UPDATE*

Was mir bei der Lektüre von Heideggers Gedenkrede immer wieder in Erinnerung gerufen wurde, sind die Kulturalisierungsregime des Soziologen Reckwitz. Diese erst 2016 veröffentliche Theorie geht davon aus, dass sich die Gesinnungslager heutzutage in die der „Hyperkultur“ und die der „Kulturessentialsten“ aufteilen lassen:

reckwitz

Heidegger lässt sich demnach klar zu den Essentialisten zählen, die auf die Gefahren einer Hyperkultur hinweisen. Auch die aufstrebenden nationalistischen Parteien in Europa sind in meinen Augen diesem ideologischen Kern verhaftet…

Der steinige Weg zur, weg von, wieder zurück zur – Gelassenheit

Der Weg zur Gelassenheit

Tatsächlich ist allen großen griechischen Denkschulen gemeinsam, dass man einen souveränen und gelassenen Zustand anstrebt.

Die Gemütsruhe Demokrits und Zenons ist der Unerschütterlichkeit der pyrrhonischen Skeptiker und der Epikureer nahe verwandt. Und auch das platonisch-aristolelische Ideal einer vortrefflichen Seelenruhe ist nicht ganz weit davon entfernt.

Sosehr man sich im Einzelnen erbittert anfeindet – in der Frage, was ein wünschenswerter Gemütszustand sein soll, sind sich die griechischen Philosophen ziemlich einig. Strittig dagegen ist, wie viel Gemeinschaft, Gesellschaft und Politik zu einem gelingenden Leben gehört. Und kontrovers ist ebenfalls, wie viele körperliche Freuden und Annehmlichkeiten ein weiser Mensch sich bereiten oder zulassen soll.


– David Richard Precht, Eine Geschichte der Philosophie, 2015, S. 357, Wilhelm Goldmann Verlag

Wer würde nicht gern von sich behaupten, er hätte eine unerschütterlich Gemütsruhe, gar eine vortreffliche Seelenruhe. Definitiv ein wünschenswerter Zustand, eine Immunität gegen das Plötzliche, eine Resistenz gegen graue Launen, eine komplette Angstfreiheit.

Interessanterweise geht mir allerdings auch gerade durch den Kopf, inwieweit eine Teilnahme an „Gemeinschaft, Gesellschaft und Politik“ eine Art Pflicht für ein gelingendes Leben darstellt – da kann ich die Konsensschwierigkeiten der älteren Herren aus der noch viel älteren Antike sehr gut nachvollziehen. Zumal „körperliche Freuden und Annehmlichkeiten“ in der Tat oft im starken Kontrast zu jeglichem geistigen Sinngehalt stehen – aber ja irgendwie auch dazugehören müssen 😉

Aber zurück zur Angstfreiheit, zur Gemütsruhe – zur Gelassenheit. Bereits in zugehörigen Seminar schien es mir schwer denkbar, angesichts allem was uns heutzutage so umgibt, Ruhe zu bewahren. Mag damals auch an den parallelen Seminaren rund um Weltpolitik, Wahrheit und Wagniskapital gelegen haben, dessen Farbe gerade noch an Teilen meines Gedankengebäudes trocknete. Mag damals daran gelegen haben, dass ich mich von finanziellen Verpflichtungen und zwischenmenschlichen Beziehungen sehr stark eingeengt gefühlt habe (oder waren es finanzielle Beziehungen und zwischenmenschliche Verpflichtungen?). Oder daran, dass ich mich mal wieder völlig lost auf der Suche befand, wie schon manches mal in den zurückliegenden 30 Jahren.

Mittlerweile denke ich, dass ein Zustand von Gelassenheit in Form eines Urvertrauens (welches uns seit der Geburt wieder und wieder genommen wurde – and they keep‘ on tryin‘) wirklich möglich ist und diese Haltung fällt mir gerade irgendwie einfach zu. Vielleicht auch, weil derzeit so viel für mich Wegbestimmendes passiert, die Scheuklappen wegbrechen und der Horizont plötzlich so weit eröffnet ist und frische Atemluft meine Lungen durchdringt.

Freiheit

Freiheit

Das wird sich bestimmt wieder ändern! Aber wenn man eine Angst überwindet, indem das eintritt, wovor man Angst hat – und es trotzdem weitergeht, ja unheimlich gut läuft – wirbelt einen dies mit unbeschreiblicher Kraft nach vorne.

Wenn das Leben Mathematik ist (da gibt es ja glaub ich ein paar Leute, die sich mit dieser These nachts in den Schlaf lullen), ist es eine steigende Sinuskurve – und die längst passierten Täler unserer Wanderung sind mit jedem Schritt ein klein bisschen weniger zu erkennen, während das Sonnenlicht auf den heute noch von Schnee bedeckten Gipfeln glimmt:

Sonnenlicht Gipfel

Trauer

Ich hoffe es regnet bald
damit die Hitze uns nich zu Kopfe steigt
Ich will dir nich fremd sein
oder so weit fort
nach all der schönen Zeit
hey du rennst die Stufen hoch
jetzt sei doch mal ehrlich
willst du mich denn überhaupt noch
ja vorhin als wir noch wussten um was es ging
hätten wir schweigen könn
schweigen und heimwärts treiben
ah tu mir nich weh so
eng umschlungen auf dem Sprung
du machst gern tabula rasa
komm weck mich auf und deck mich zu
mach krawall und komm zu Ruh
du machst gern tabula rasa

Ist es denn wirklich so kompliziert
oder ist uns die neugier entwischt
gehn wir wenns am schönsten is
du willst mehr als nur weise und gefährlich sein
und ein schen weiß ich was du damit meinst
eines Tages bin ich vielleicht nich mehr auf der Flucht
vor dem Menschen der aus meinen Augen guckt
ja vorhin als wir noch wussten wer wir sind
hätt ich mir gewünscht wir hätten schweigen können
schweigen und heimwärts treiben
ah tu mir nich weh
komm weck mich auf und deck mich zu
mach krawall und komm zu ruh
du machst gern tabula rasa
du machst gern tabuila rasa

Ooohh tu mir nich weh
so eng umschlungen aufm sprung du machst gern du machst gern tabula rasa
komm weg mich auf und deck mich zu
mach krawall und komm zu ruh
du machst gern tabula rasa

Seneca: Das Leben als gleichmäßige Bewegung

Zur Gelassenheit hat Lucius Annaeus Seneca (1 v. Chr. – 65 n. Chr.) in „De tranquillitate animi – Über die Ausgeglichenheit der Seele“ geschrieben. Bevor wir uns damit näher befassen, kurz zur Person Seneca:

Seneca„Vermutlich ist der wohlhabende Spanier, der in Rom eine steile Karriere gemacht hat, der meistgelesene Stoiker überhaupt. Er bekennt sich zum Ideal der Gemütsruhe (ataraxia) und Gelassenheit (apatheia), verteidigit den Vorrang der Vernunft vor den Affekten, ist ein konsequenter Verfechter der Gleichheit aller Menschen und kritisiert vorsichtig die Sklaverei. Dass ihm das Schicksal aufbürdetete, als Prinzenerzieher Neros den grausamsten und verrücktesten aller römischen Kaiser zu erziehen, dürfte höchste Ansprüche an Senecas Fähigkeit zur Gelassenheit gestellt haben.“

– David Richard Precht, Eine Geschichte der Philosophie, 2015, S. 352, Wilhelm Goldmann Verlag

Über die Ausgeglichenheit der Seele: Senerus sucht Rat

„Indem wir lehren, lernen wir“, soll von Seneca stammen. Und so tritt er auch in der besagten Schrift als Lehrer oder Ratgebender auf und erteilt Seneca Ratschläge an Senerus, der sich mit der grundsätzlichen Fragestellung nach der Befähigung zur Gelassenheit an Seneca wendet.

Papageien

Senerus stellt zunächst klar, dass er geltenden Grundsätzen etwas abgewinnen kann: „Es gefällt mir, dem Gebot unserer Grundsätze zu folgen und mich in den Trubel der Politik zu wagen […] um Freunden, Nahestehenden und allen Bürgern, überhaupt allen Mitmenschen mehr zu Diensten und nützlich zu sein“ (S. 9). Er hat sogar selbst eine Wunschvorstellung von einem guten Leben: „Mit sich selbst sei mein Geist befaßt, mit seiner Vervollkommnung, er treibe nichts ihm Fremdes, nichts, was sich dem Urteil anderer aussetzt, seine Liebe gehöre einer von Sorge um Eigenes und die Gemeinschaft freien Ausgeglichenheit“ (S. 9). Doch nichtsdestotrotz klingt sind seine Ausführungen von Pessismus geprägt, er fragt: „Wozu ist’s nötig, Jahrhunderte überdauernde Werke zu schaffen? Willst du nicht dies betreiben, dass die Nachwelt nicht über dich schweige? Um zu sterben, bist du geboren! Geringere Mühsal hat eine Beisetzung in Schweigen“ (S. 11). Senerus hinterfragt, warum sich überhaupt die Mühe machen solle, nach dem Verfassen großer Werke zu sterben, nur um in der Nachwelt noch im Gespräch zu bleiben. Der Tod folge unweigerlich auf die Geburt und warum bemühe sich der Mensch überhaupt, etwas aus seinem Leben zu machen? Er appeliert daher an Seneca: „Daher bitte ich dich: Wenn du dein Mittel weißt, meinem Schwanken abzuhelfen, dann glaube, ich verdiente es, dir die Ausgeglichenheit der Seele zu verdanken. Natürlich ist diese Ruhelosigkeit der Seele ohne Gefahr und verursacht keinerlei stürmischen Aufruhr. Um dir durch einen zutreffenden Vergleich die Ursache meiner Klage deutlich zu machen: nicht Sturmesbrausen, sondern die Seekrankheit schüttelt mich. Befreie mich also von diesem Übel, wie es auch darum stehen mag, und eile dem im Anblick des Landes Bedrängen zu Hilfe!“ (S. 13).

Senecas Thesen zur Gelassenheit

„Diese ruhige Gesetztheit nennen die Griechen Euthymia – über sie gibt es ein ausgezeichnetes Buch des Demokrit -, ich nenne sie Ausgeglichenheit der Seele. […] Unsere Frage richtet sich also darauf, wie der Geist immer in gleichmäßiger und glücklicher Bewegung verbleibe, mit sich in segensreicher Übereinstimmung stehe, sein eigenes Tun freudig betrachte und diese Freude nicht unterbreche, vielmehr in einem Zustand der Ruhe verharre, ohne je überheblich oder niedergeschlagen zu sein“ (S. 15), beginnt Seneca seine nun folgenden Ausführungen.

Alle seien in der derselben Lage: „Diejenigen, die ihre Oberflächlichkeit nicht zur Ruhe kommen lässt, ihr Überdruss und die Sucht, einen Beschluss zu ändern, denen immer mehr gefällt, was sie hinter sich haben, und diejenigen, die trübsinning dahindämmern […] Denke noch an jene, die nicht durch Mangel an Standhaftigkeit, sondern durch den ihrer Schwerfälligkeit zu wenig wendig sind: sie leben nicht, wie sie wollen, sondern wie sie begannen“ (S. 15).

Fortlaufend zu leben, wie man began. Mit einer überwältigenden Einfachheit arbeitet Seneca hier die Grundpfeiler einer erzkonservativen Lebenseinstellung heraus. Wer – um mit dem Konstruktivismus zu sprechen – seine bisherigen Stationen im Leben, seine bisherigen Einstellungen und Verhaltenweisen, niemals hinterfragt, reflektiert oder versucht diese aktiv zu verändern, wird ihnen für immer verhaftet sein.

Seneca geht weiterführend auf die Charakterzüge jenes umtriebenen Menschen ein: „Infolge dieser Abneigung gegen die Erfolge anderer und des mangelnden Vertrauens in die eigenen hadert der Geist dann mit dem Schicksal, klagt über den Zeitgeist, zieht sich in einen Schmollwinkel zurück und brütet nach über seinen Mißerfolg, voller Unzufriedenheit und Bitternis über sich selbst“ (S. 17).

Dauerhafte Angespannheit und Betriebsamkeit sind für Seneca ein Ausdruck eines krankhaften Zustandes: „Es ist ja der Geist des Menschen von Natur rührig und geneigt zur Betriebsamkeit. Willkommen ist ihm jeglicher Anlass, sich zu regen und aus sich herauszutreten“ S. (19). „Dies verrät einen kranken Menschen: Keinen Zustand lange ertragen zu können, sondern Änderungen wie Heilmittel anzuwenden“ (S. 19) und „Das Übel, an dem wir leiden, liegt nicht an den Orten, sondern ins uns“ (S. 19).

Jeder, soviel er kann

Für Seneca ist der Einsatz für die Gesellschaft ein wichtiger Aspekt für ein erfülltes Leben. Dabei unterscheidet er aber stark zwischen den Möglichkeiten des Einzelnen: „Denn nicht nur der nützt dem Gemeinwesen, der Amtsbewerber vorstellt, Angeklagte verteidigt und über Krieg und Frieden abstimmt, sondern wer die Jugend ermutigt, wer bei einem so drückenden Mangel an guten Lehren die Tugend einpflanzt, wer die Menschen bei ihrem Jagen und Hasten nach Geld und Überfluß festhält und sie zurückzieht, und wenn er sonst nichts erreicht, sie wenigstens hindert, der betreibt im privaten Kreis die Geschäfte der Gemeinschaft“ (S. 23). Weiter gelte es „zu überdenken, ob dein Charakter mehr für ein tätiges Leben oder für ein mußevolles Sichversenken und geistrige Betrachtung geeignet ist, und du musst dich neigen, wohin dich die Richtung deiner Begabung lenkt“ (S. 33), denn „Nur unter Druck gesetzt, entsprechen Begabungen den Erwartungen nicht: Wenn die Natur widerstrebt, bleibt das Mühen erfolglos“ (S. 35).

Interessant ist, dass Seneca es zur Tugend erklärt, die Menschen „bei ihrem Jagen und Hasten nach Geld und Überfluß“ festzuhalten und sie zurückzuziehen, da sich solch‘ ein Verhalten in einer auf Leistung ausgerichteten Gesellschaft wie der unseren kaum als gesellschaftliches Maxim erkennen lässt. Doch vielleicht ist dies auch Teil der Antwort auf die Disfunktionalitäten des Kapitalismus?

Von Schicksalschlägen und unerhofften Lebenswendungen solle man sich laut Seneca nicht entmutigen lassen: „Wenn das Schicksal übermächtig ist und die Möglichkeit zum Handeln abschneidet, dann sollte er sich nicht gleich waffenlos zur Flucht wenden, auf der Suche nach einem Versteck, so als ob es irgendeine Stelle gäbe, an die dich das Schicksal nicht verfolgen könnte, nein: vorsichtiger stelle er sich öffentlichen Aufgaben und finde mit Bedacht eine, um darin der Bürgerschaft nützlich zu sein“ (S. 27), denn „Niemals ist das Zupacken eines gutgesinnten Bürgers nutzlos“ (S. 29)

Eine deutliche Abgrenzung spricht Seneca gegenüber wehmütigen und pessimistischen Menschen aus: „Besonders aber meide man melancholische und in allem hoffnungslose Leute, denen jeder Anlass zu Klagen gelegen kommt“ (S. 37)

Die Rahmenbedingungen eines gesellschaftlichen Systems sollen laut Seneca nicht als Hinderungsgrund für eine bedachte und weise Lebenseinstellung gelten. Indem er Sokrates bemüht unterstreit Seneca, dass die Rahmenbedingungen keine Rolle dabei spielen: „Sokrates aber bewegte sch mitten unter den Bürgern, er tröstete die klagenden Väter, ermutigte die am Gemeinwesen Verzweifelnden; den Reichen, die um ihre Habe fürchteten, hielt er ihre verspätetete Reue über verderbenbringende Habsucht vor und stelle überall denen, die ihm nacheifern wollten, sein Beispiel vor Augen, bewegte er sich doch als freier Mann inmitten von dreißig Gewaltherren […] Trotzdem hat ihn eben dieses Athen im Gefängnis zu Tode gebracht, und es ertrug den Freimut des Mannes, der gefahrlos der Schar der dreißig Tyrannen gespottet hatte, die Freiheit nicht, so dass du weißt: in einem gedemütigten Gemeinweisen hat eine weiser Mann Gelegenheit, sich zu bewähren“ (S. 31).

Besitz, Wohlstand und Glück

„Das beste Maß für Vermögen ist dasjenige, das weder in den Zustand der Armut verfällt noch nicht weit davon entfernt.“ (S. 43)

In Bezug auf materiellen Besitz argumentiert Seneca, dass ein Mehr an materiellen Gütern und Besitztümern auch das Potential von Verlustängsten erhöht: „Deshalb musst man bedenken, ein wie viel geringerer Schmerz es ist, nichts zu besitzen als es zu verlieren, und wir werden einsehen, dass Armut um so weniger Anlass zu Qualen mit sich bringt, je weniger sie Verluste verursacht. Denn du irrst, wenn du glaubst, die Reichen ertrügen Schaden mutiger. Für sehr große Körper ist der Schmerz genauso schlimm wie für kleine.“ (S. 39) Besonders deutlich pointiert er dies mit einer Metapher: „Deshalb wirst du die Leute in größerer Freude sehen, die das Glück nie eines Blickes gewürdigt hat, als solche, die es verlassen hat“ (S. 39)

Die daraus gewonnene Ressource heißt Sorglosigkeit, die Seneca zu einem weiteren Maxim erklärt. Dabei hebelt er Anfeindungen von vornerein aus: „Nenne du dies Armut, Mangel und Not; gib der Sorglosigkeit irgendeinen Schimpfnamen“ (S. 39) Seneca fragt: „Wirst du einen für arm halten […] der sich aller Güter des Zufalls entledigt hat?“ (S. 39).

Weiterführend bemüht der römische Philosoph eine Geschichte um den asketisch lebenden Diogenes, die verdeutlichen soll, dass die Dinge Besitz von ihrem Besitzer ergreifen, wenn dieser sich zu fest an sie klammert: „Dem Diogenes entfloh sein einziger Sklave, und wenngleich man ihm sein Versteck mitteilte, hielt er es nicht der Mühe wert, ihn zurückbringen zu lassen. „Eine Schande wäre es“, meinte er, „dass Manes ohne Diogenes leben kann, nicht aber Diogenes ohne Manes“. Er scheint mir damit gesagt zu haben: „Walte nur, Schicksal, deines Amtes, bei Diogenes steht nichts mehr in deiner Macht! Ein Sklave ist mir entlaufen; gut, so habe ich mich auf freien Fuß gesetzt.““ (S. 41)

Fleiß und Lernen

Denkt man an die landläufige Vorstellung von „Fleiß“ und „Lernen“ steht eigentlich gar nicht zur Debatte, dass Fleiß und Lernen immer gut und steigerungsfähig sind. Niemand würde hier „Obergrenzen“ definieren, denn das erstrebenswerte in Fleiß und Lernen nimmt nicht ab, wenn man es (bis ins Unermessliche) steigert.

Interessanterweise macht Seneca aber darauf aufmerksam, dass auch hier „das Maß voll sein kann“. Er schreibt: „Belastung ist für den Lernenden das Übermaß, nicht Unterrichtung, und es ist viel besser, sich wenigen Autoren anzuvertrauen als sich durch viele verwirren zu lassen“ (S. 45)

Ein Gedanke, den ich im Rahmen des Studiums immer öfter hatte: Ist es wirklich sinnvoll, jeden Autoren zu lesen, anstatt sich Autoren anzuvertrauen, deren Schreibstil und deren Lebensauffassung gefällt? Ist es jedoch nicht gerade wichtig, sich NICHT in seinen Selbstbestätigungsmilieus zu bewegen, sondern sich auch einmal herauszufordern? Ich denke es ist wichtig, sich gegensätzliche Meinungen und Weltanschauungen auszusetzen, letztlich aber ruhig einen Weg für sich einzuschlagen und hier in die Tiefe zu gehen. Politisch betrachtet macht man sich ja auch für gewisse Standpunkte stark, während andere die Gegenseite einnehmen. Solange eine Balance erhalten bleibt, ist es daher nicht verwerflich, sein Gedankengebäude auf bestimmten Fundamenten zu entwerfen – auch, um nicht vom kleinsten Windstoß umgestoßen zu werden, weil das Fundament aus unterschiedlichsten Materialen besteht.

Außerdem spielt das Zeitmanagement in diesem Zusammenhang eine Rolle: Wenn ich alles mache, mache ich nichts richtig. Fokussierung spielt dabei eine entscheidene Rolle: „Diesen Gedanken, meine ich, hin Demokrit nach und so begann er: Wer ein ausgeglichenes Leben führen will, der nehme sich weder als Privatmann nocht als Politiker zu viel vor“ (S. 61).

Die Empfehlung, eine Balance zu finden, wird auch gegen des Ende noch einmal wiederholt: Auch soll man nicht den Geist in derselben Anspannung ohne Abwechslung halten, sondern ihn zu Scherz ablenken. […] Wie man fruchtbare Felder nicht ausbeuten darf […] ebenso wird dauernde Mühsal den Schwung des Geistes brechen. Ein wenig entlastet und entspannt wird der Geist seine Kraft erneuern. Es stellt sich auf unablässige Mühsale gleichsam Lähmung und Abstumpfung des Geistes ein“ (S. 75).

Ein effektives Zeitmanagement war bereits zu Senecas Zeiten en vogue: „So erinnern wir uns an den großen Redner Asinius Pollio, den keine Aufgabe über die zehnte Stunde hinaus in Anspruch nahm. Nicht einmal Briefe las er nach dieser Stunde, damit nicht eine neue Verpflichtung entstünde; nein, die Erschöpfung des ganzen Tages legte er in jenen zwei Stunden ab“ (S. 77).

Umgang mit Schwierigkeiten

„Bediene dich der Vernunft gegenüber den Schwierigkeiten! Härte kann gemildert, Enge geweitet werden, schwere Last den weniger bedrücken, der sie zu tragen weiß“, empfiehlt Seneca weiter (S. 49) und konstatiert: „Wir wollen das aufgeben, was entweder gar nicht oder nur mit Schwierigkeiten verwirklicht werden kann, und naheliegende, unseren Hoffnungen sich anbietende Ziele verfolgen, aber doch uns vergegenwärtigen, dass alles gleich unbedeutend ist, wenngleich es nach außen verschiedene Erscheinungsformen zeigt: sein innerer Wert ist gleich bedeutungslos. Wir wollen nicht die beneiden, die auf höhrer Stufe stehen. Was hochragend schien, ist in den Abgrund gestürzt“ (S. 49).

Bedeutet dies also, immer den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen? Ich glaube nein! Es geht eher darum, offensichtliche Probleme besonnen zu betrachten und auch einmal von ihnen abzulassen, anstatt sich vollends an ihnen abzuarbeiten. Dies gilt auch umgekehrt, denn Seneca empfiehlt:

„Immer unserem Aufstieg eine Begrenzung entgegenzusetzen, nicht dem Geschick die Entscheidung über Verzicht anheimzustellen, sondern selbst lange vorher innezuhalten. So werden einige Begierden unseren Geist beflügeln, aber, in Grenzen gewiesen, nicht ins Ungewisse und Unermeßliche führen“ (S. 51).

Denn auch auf einem Höhenflug verliert man womöglich das nötige Korrektiv aus den Augen. Wer zu stark auf eine (gute) Karte setzt, läuft Gefahr im Zweifelsfall sehr tief zu fallen. Denn Wandel und Veränderung gehört zum Leben. Zufriedenheit erschließt Seneca aus einer tugendhaften Dankbarkeit für jene Dinge, die uns einmal gelangen, auch wenn sie der Vergangenheit angehören: „Dank sage ich für den Besitz und die Habe von einst. Mit großen Aufwand habe ich deinen Besitz in Ordnung gehalten, aber, weil dus befiehlst, gebe, erstatte ich ihn gern, freudig zurück“ (S. 51). Denn „Der Augenblick einer Stunde liegt zwischen Thron und Kniefall“ (S. 55).

Vielmehr solle man aus der Not eine Tugend machen, wofür Seneca Zenon bemüht: „Als unser Zenon nach der Meldung vom Schriffsbruch hörte, all seine Habe sei in der Tiefe versunken, sagte er: Das Schicksal befiehlt mir, ungehinderter Philosophie zu betreiben“ (S. 63).

Gefühle, Trauer, Emotionen

Seneca bekennt sich dazu, dass der Mensch Mensch ist und kein perfektes Wesen. Die Bewertung von Situationen hängt von der jeweiligen Betrachtungsweise ab: „Menschlicher ist es, über das Leben zu lachen als zu jammern“ (S. 69).

Auch das Bekenntnis zu den eigenen Gefühlen spielt für Seneca eine wichtige Rolle. Hier schildert er einen gesellschaftlichen Zwang, dem sich viele Menschen unterwerfen und ihre eigenen Gefühle verkennen: „Die meisten vergießen Tränen, um sich zur Schau zu stellen, und tränenlos haben sie die Augen jedesmal, wenn kein Zuschauer da ist, weil sie es für eine Schande halten, nicht zu weinen, wenn alle es tun. So tief hat sich dieses Übel eingenistet, von der Meinung anderer abzuhängen, dass sogar der Schmerz, ganz spontanes Empfinden, zur Schauspielerei wird“ (S. 69). Zusammenhänge zu dem soziologischen Großwerk „Wir alle spielen Theater“ von Erving Goffman sind nicht von der Hand zu weisen.

Seneca spricht von ständiger Selbstbeobachtung, durch die wir uns selbst zu Opfern des eigenen Denkens machen: „Es ist auch dies eine nicht leichtzunehmende Ursache von Bekümmernissen, wenn du dir ängstlich eine Rolle aufzwingst und dich niemandem einfach so, wie du bist, zeigst – ein Lebensstil der Unaufrichtigkeit und der Schauspielerei, wie ihn viele pflegen. Zur Qual wird nämlich ständige Selbstbeobachtung: da fürchtet einer bei einem anderen als seinem gewöhnlichen Gebaren ertappt zu werden. Wir werden die Sorge nie los, wenn wir uns so oft beurteilt wie beobachtet fühlen. […] Es ist besser, aufgrund schlichter Lebenseinstellung herabgesetzt als wegen dauernder Verstellungskunst gequält zu werden“ (S. 73).

Die Quintessenz ist deutlich: Es ist egal, was „die Anderen“ sagen. Warum sollte man seine Kräfte für die Verstellungskunst vergeuden, anstelle den eigenen Einstellungen freien Lauf zu lassen? Wenn ich dabei an meine dörflich lebende Großelterngeneration denke (und vermutliche hunderte Generationen davor), hätten diese sich von Seneca inspirieren lassen können, denn „was die anderen denken“ war dort prägend. Ich glaube es war Foucault, der den Vergleich aufstellte: Die Menschen leben in einem fiktiven Gefängnis aus Glas, durch das die Bewacher sie dauerhaft beobachten. Das führt zur dauerhaften Verstellungskunst, die Seneca schon bemängelt hat.

Auch im Umgang mit seinen Mitmenschen rät Seneca zur Vorsicht: „Oft muss man wieder zu sich selber zurückfinden. Das Gespräch nämlich mit andersgearteten Menschen verwirrt das innere Gleichgewicht, ruft Leidenschaft wieder wach und reißt alle Schwächen unseres Geistes und nicht ausgeheilte Wunden wieder auf. Dennoch muss man diese Verhaltensweisen verbinden und mieinander abwechseln lassen: Einsamkeit und Geselligkeit. Jene wird in uns die Sehnsucht nach Menschen wecken, diese nach uns selbst, und es wird die eine das Heilmittel für die andere sein: die Einsamkeit heilt die Ablehnung der Menge, die Menge den Überdruß an Einsamkeit“ (S. 73). Auch hier lässt sich wieder das Credo der Balance erkennen: Nicht in eines der Extreme abdriften, sondern bewusst zwischen dem einen und dem anderen wechseln.

Der Weg zur Gelassenheit nach Seneca

Gegen Ende seiner Niederschrift zitiert Seneca Platon mit den Worten „Vergeblich klopft an die Tore der Dichkunst, wer in sich ruhe“ und ebenso Aristoteles: „Kein großes Genie gab es ohne einen Anflug von Wahn“ (S. 79), um dann in eigenen Worten zu unterstreichen, dass Gelassenheit (und womöglich auch dadurch erwachsende Kreativität) nicht durch Monotonie erreicht werden kann: „Lossagen soll er sich von Alltäglichem, sich emportragen lassen, seine Zügel durchbeißen, seinen Wagenlenker emporreißen und dahin tragen, wohin aufzusteigen er sich selber nicht zugetraut hatte“ (S. 79).

Als abschließendes Fazit, welches „De tranquillitate animi – Über die Ausgeglichenheit der Seele“ in meinen Augen sehr gut zusammenfasst, hinterlässt Seneca folgende Passage:

„Wir wollen uns daran gewöhnen, Prunk von uns fernzuhalten und als Maß den Nutzen der Dinge, nicht ihren Glanz zu nehmen. Die Nahrung befriedige unseren Hunger, der Trunk unseren Durst und das Triebleben finde nur im Maße des Notwendigen seine Befriedigung. Wir wollen lernen, auf eigenen Beinen zu stehen, unseren ganzen Lebensstil nicht nach modischen Vorbildern auszurichten, sondern so, wie es die Gesittung der Vorfahren nahelegt. Wir wollen lernen, unsere Selbstbescheidung zu festigen, Genußsucht einzuschränken, das Streben nach Anerkennung zu mäfligen, den Zorn zu dämpfen, Armut mit den Augen der Gleichmut zu betrachten, den Sinn für Schlichtheit zu pflegen, auch wenn viele sich dessen schämen, den natürlichen Wünschen mit um geringen Preis erworbenen Mitteln der Abhilfe zu begegnen, ungezügelte Hoffnungen und einen auf die Zukunft gerichteten Geist gleichsam in Fesseln zu halten, danach zu handeln, daß wir Reichtum eher von uns als vom Schicksal erwarten“ (S. 43).

Unglaublich, wie passend diese Gedanken auf unsere heutige Zeit bezogen werden können. Mit der Vermarktlichung aller Lebensbereiche ist das Erfolgssterben und die Profitgier immer allgegenwärtiger – und es ist an uns Menschen diesem Paradigma mit einer zeitgemäßen Philosophie zu begegnen. Lucius Annaeus Seneca hat dazu bereits vor über 2000 Jahren einen wertvollen Beitrag geleistet!

Lebenspraktische Take-Away’s

  • Das Leben ist gleichmäßige Bewegung – Balance zwischen Schaffen und Muße
  • Momente auf sich wirken lassen – zu „ertragen“ lernen
  • Finde heraus, was zu deinem Charakter passt
  • Nicht jede Gesellschaft ist gute Gesellschaft
  • Sich nicht zu lange an Problemen aufhängen
  • Mehr Reichtum -> Mehr Verantwortung -> Mehr Angst
  • „Die Anderen“ sollten nicht das eigene Leben diktieren

Gelassen bleiben: Mehr Fragen als Antworten

Wie bleibt man gelassen? Meint dieser Zustand, stets „cool“ zu bleiben und die Ruhe zu bewahren? Bedeutet es, Emotionen und Aufregung zu unterdrücken beziehungsweise gar nicht erst aufkommen zu lassen? Wäre das nicht wider unserer Natur und stände Empfehlungen aus der Psychotherapie entgegen, wonach man Gefühle „raus lassen“ sollte? Oder beschreibt Gelassenheit auch das, Gefühlsregungen „gehen zu lassen“?

Als Diogenes, der asketisch lebende Philosoph, von Alexander dem Großen gefragt wird, wie dieser ihm einen Dienst erweisen könne, entgegnet Diogenes, Alexander möge ihm aus der Sonne gehen. Ist dies ein Sinnbild für Gelassenheit? Ist vielleicht Verzicht ganz eng mit Gelassenheit verknüpft?

Diogenes

Wie kann man gelassen bleiben, angesichts der Unsicherheiten des Lebens im Kleinen und einer globalisierten und immer präsenteren Welt im Großen? Überfordert uns das nicht kognotiv?

Gelassen bleiben

Dieses Blog wurde erstellt, um Antworten auf diese Fragen zu suchen. Und allein durch die Beschäftigung damit vielleicht auch zu finden…