Heidegger: Technik-Visionär… und -hasser?

„Wir sind zu einer Gedenkfeier für unseren Landsmann, den Komponisten Conradin Kreutzer, versammelt“ beginnt Martin Heidegger seine Festrede, die als Schrift „Zur Erörterung der Gelassenheit – Aus einem Feldweggespräch über das Denken“ veröffentlicht wurde.

HeideggerZur Person: Zu den bekanntesten deutschen Philosophen der Neuzeit gehört Martin Heidegger, der mit seinem Hauptwerk „Sein und Zeit“, die philosophische Richtung der Fundamentalontologie begründete. Die wichtigsten Ziele Heideggers waren die Kritik der abendländischen Philosophie und die denkerische Grundlegung für ein neues Weltverständnis. In die Kritik gerät Heidegger immer wieder aufgrund seiner Verbindung zu den deutschen Nationalsozialisten.
(Quelle: Wikipedia)

Heidegger nutzt den Anlass der Gedenkfeier für seine schnell abstrakt werdende Gedenkrede: „Aber ist die Feier […] eine Gedenkfeier? Zu einer Gedenkfeier gehört doch, dass wir denken“ (S. 10). Er bezieht sich auf die Bedeutung von „Denken“ an sich und geht in die Offensive: „Machen wir uns nichts vor. Wir alle, eingeschlossen diejenigen, diegleichsam von Berufs wegen denken, wir alle sind oft genug gedanken-arm; wir alle sind allzu leicht gedanken-los. Die Gedankenlosigkeit ist ein unheimlicher Gast, der in der heutigen Welt überall aus- und eingeht. Denn man nimmt heute alles und jedes auf dem schnellsten und billigsten Weg zur Kenntnis und hat es im selben Augenblick ebenso rasch vergessen“ (S. 11).

Damit fällt Heidegger ein strenges Urteil, indem er die zunehmende Trivialität der heutigen Kommunikation bemängelt. Heidegger argumentiert, dass wir nur gedanken-arm sein können, weil wir überhaupt denken können – und letztes zunehmend vernachlässigen: „Der heutige Mensch ist auf der Flucht vor dem Denken“ (S. 12).

Weiterführend unterscheidet Heidegger in das rechnende Denken und das besinnliche Nachdenken. Er beschreibt den Zeitgeist folgendermaßen: „Wir rechnen im voraus auf bestimmte Erfolge. Dieses Rechnen kennzeichnet alles planende und forschende Denken. […] Das rechnende Denken kalkuliert. Es kalkuliert mit fortgesetzt neuen, mit immer aussichtsreicheren und zugleich billigeren Möglichkeiten […] Das rechnende Denken ist kein besinnliches Denken, kein Denken, das dem Sinn nachdenkt, der in allem waltet, was ist“ (S. 12/13).

Heidegger
„Es kalkuliert mit fortgesetzt neuen, mit immer aussichtsreicheren und zugleich billigeren Möglichkeiten“

Heidegger kritisiert die zunehmende Rationalisierung und Ökonomisierung des Lebens, ein tiefgründiges Nachdenken bleibe auf der Strecke, wenn es nicht dem Maxim der Nützlichkeit diene: „Das bloße Nachdenken schwebt doch unversehens über der Wirklichkeit. Es verliert den Boden. Es taugt nichts für die Bewältigung der laufenden Geschäfte. Es bringt nichts ein für die Durchführung der Praxis“ (S. 13).

Dabei sei das besinnliche Nachdenken keineswegs abgehoben oder kompliziert, es fange schon bei der Vergegenwärtigung der Gegenwart an: „So brauchen wir denn auch beim Nachdenken keineswegs hochhinaus. Es genügt, wenn wir beim Naheliegenden verweilen und uns auf das Nächstliegende besinnen: auf das, was uns, jeden Einzelnen hier und jetzt, angeht; hier: auf diesem Fleck Heimaterde, jetzt: in der gegnwärtigen Weltstunde“ (S. 14).

Raubt uns die Technik die Heimat?

Der deutsche Philosoph zeigt sich besorgt um Trends wie Urbanisierung, denn er befürchtet den Verlust und die Entfremdung von der eigenen Heimat: „Zahllose andere […] wandern gleichwohl ab, geraten in das Getriebe der großen Städte, müssen in der Öde der Industriebezirke sich ansiedeln. Sie sind der alten Heimat entfremdet“ (S. 15).

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Sind wir bereits in das „Getriebe der großen Städte“ gekommen?

Sodann widmet er sich den Medien, die die Menschen immer mehr in ihren Bann ziehen und sie davon abhalten, sich der tatsächlichen, erfahrbaren Realität auszusetzen: „Und die in der Heimat Gebliebenen? Vielfach sind sie noch heimatloser als die Heimatvertriebenen. Stündlich und täglich sind sie an den Hör- und Fernsehfunk gebannt. Wöchentlich holt sie der Film weg in ungewohnte, oft nur gewöhnliche Vorstellungsbezirke, die eine Welt vortäuschen, die keine Welt ist. Überall ist die Illustrierte Zeitung greifbar. All das, womit die modernen technischen Nachrichteninstrumente den Menschen stündlich reizen, überfallen, umtreiben – all dies ist dem Menschen heute bereits viel näher als das eigene Ackerfeld rings um den Hof, näher als der Himmel überm Land, näher als der Stundengang von Tag und Nacht, näher als Brauch und Sitte im Dorf, näher als die Überlieferung der heimatlichen Welt“ (S. 15)

Wie nah sind wir noch dran, an der Realität?

Betrachtet man den Text aus heutiger Sicht, muss man Heidegger eine hohe Fähigkeit des vorausschauenden Denkens attestieren. So hat das Internet in kürzster Zeit den Mediumkonsum intensiviert und das Bild von auf Smartphones starrenden Menschen ist zum Sinnbild unserer technischen Modernisierung geworden.

Atomzeitalter: Atombombe gar nicht die größte Bedrohung

Atomzeitalter
Für Heidegger ist die Vernichtung der Menschheit durch eine Bombe gar nicht die größte Bedrohung, die die Menschheit fürchten muss…

Heidegger äußert sich zur Entwicklung der Atombombe und der Atomenergie, die von der Wissenschaft damals noch in den höchsten Tönen gelobt wurde. Doch die Vernichtung der Menschheit durch eine Bombe ist für Heidegger gar nicht die größtmögliche Bedrohung: „So haben im Juli dieses Jahres achtzehn Noblpreisträger auf der Insel Mainau in einem Aufruf wörtlich erklärt: Die Wissenschaft – d. h. hier die moderne Naturwissenschaft – ist ein Weg zu einem glücklicheren Leben des Menschen. Wie steht es mit dieser Behauptung? Entspringt sie einer Besinnung? Denkt sie jemals dem Sinn des Atomzeitalters nach? Nein. Wenn wir uns durch die erwähnte Behauptung der Wissenschaft zufriedenstellen lassen, dann bleiben wir von einer Besinnung auf das gegenwärtige Zeitalter so weit entfernt als nur möglich. Warum? Weil wir vergessen, nachzudenken. Weil wir vergessen, zu fragen: Worauf beruht es denn, dass die wissenschaftliche Technik neue Energien in der Natur entdecken und freisetzen konnte?“ (S. 17).

Worauf beruht diese Technik? Auf philosophischem Nachdenken oder rationalem Fortschrittsdenken? Kann der Ingenieur alle Faccetten einer Technologie mitdenken?

Die Natur als Tankstelle

Martin Heidegger verlangt nach einer neuen Philosophie der Technik, die sich der Gefahr des allein rechnenden Denkens entgegenstellt: „Jetzt erscheint die Welt wie ein Gegenstand, auf den das rechnende Denken seine Angriffe ansetzt, denen nichts mehr soll widerstehen können. Die Natur wird zu einer einzigen riesenhaften Tankstelle, zur Energiequelle für die moderne Technik und Industrie“ (S. 18).

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Wie weit darf der Mensch gehen? Wann sind die „Tanks der Natur“ ausgebeutet?

Auch hier muss man Heidegger – retroperspektiv betrachtet – hellseherische Fähigkeiten bescheinigen: „Die Entwicklung der Technik wird indes immer schneller ablaufen und nirgends aufzuhalten sein“ (S. 19). Betrachtet man die letzten Jahrzehnte aus heutiger Sicht (2017), hat sich die Technologie tatsächlich exponentiell weiterentwickelt und beschleunigt.

Zu einer zentralen Erkenntnis in der Gedenkrede Heideggers gehört zweifellos folgender Ausspruch: „Eines ist es, dass wir etwas gehört und gelesen haben, d. h. es bloss kennen; ein anderes ist es, ob wir das Gehörte und Gelesene erkennen und d. h. bedenken“ (S. 20). Gerade heute, in Zeiten von Fake News und Alternativen Fakten, ist es wichtig zu unterscheiden, welche Dinge wahr sind und welche Dinge wir lediglich für wahr halten. Die Seriösität von Informationen und deren Quellen ist zweifelsohne zu einer entscheidenden Frage im Informationszeitalter avanciert.

Im Atomzeitalter bedroht: Die Bodenständigkeit menschlicher Werke

Gleich zwei mal zitiert Heidegger den deutschen Schriftsteller Johann Peter Hebel, der im 18. Jahrhundert schrieb: „Wir sind Pflanzen, die – wir mögen’s uns gerne gestehen oder nicht – mit den Wurzeln aus der Erde steigen müssen, um im Äther blühen und Früchte tragen zu können“.

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Bodenständigkeit hat für Heidegger einen essentiellen Wert: Wie tief sind wir noch verwurzelt mit der Natur?

Diese Analogie fügt sich genau in Heideggers Bild von der Verbundenheit des Menschen zur Realität, zur Natur. Wer seine Heimat, seinen Nährboden verliert, kann nicht überdauern. „Unversehens sind wir jedoch so fest an die technischen Gegenstände geschmiedet, dass wir in die Knechtschaft zu ihnen geraten“ (S. 22), warnt Heidegger.

Gelassenheit zu den Dingen entwickeln

Doch bei aller Kritik gibt es für Heidegger auch eine Möglichkeit, mit dem technischen Fortschritt umzugehen: „Wir können ja! sagen zur unumgänglichen Benützung der technischen Gegenstände, und wir können zugleich nein! sagen, insofern wir ihnen verwehren, dass sie uns ausschließlich beanspruchen und so unser Wesen verbiegen, verwirren und zuletzt veröden“ (S. 22/23).

Insofern wir ihnen verwehren, dass sie uns auschließlich beansprungen. Schaut man sich die gegenwärtige Situation in allen Gesellschaftsschichten an, so würde ich mich sehr dafür interessieren, was der Martin heute formulieren würde. Inzwischen verbringen die Menschen schließlich täglich sehr viel Zeit mit technischen Geräten, allen voran Smartphone und Laptop. Oder hat er auch diese Intensität vorausgeahnt?

Martin Heidegger schließt mit der Warnung, dass der Mensch sich dazu positionieren müsse, denn sonst „hätte der Mensch sein Eigenstes, dass er nämlich ein nachdenkendes Wesen ist, verleugnet und weggeworfen. Darum gilt es, dieses Wesen des Menschen zu retten. Darum gilt es, das Nachdenken wach zu halten“ (S. 25).

Nachdenken

*UPDATE*

Was mir bei der Lektüre von Heideggers Gedenkrede immer wieder in Erinnerung gerufen wurde, sind die Kulturalisierungsregime des Soziologen Reckwitz. Diese erst 2016 veröffentliche Theorie geht davon aus, dass sich die Gesinnungslager heutzutage in die der „Hyperkultur“ und die der „Kulturessentialsten“ aufteilen lassen:

reckwitz

Heidegger lässt sich demnach klar zu den Essentialisten zählen, die auf die Gefahren einer Hyperkultur hinweisen. Auch die aufstrebenden nationalistischen Parteien in Europa sind in meinen Augen diesem ideologischen Kern verhaftet…

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