Zur Gelassenheit hat Lucius Annaeus Seneca (1 v. Chr. – 65 n. Chr.) in „De tranquillitate animi – Über die Ausgeglichenheit der Seele“ geschrieben. Bevor wir uns damit näher befassen, kurz zur Person Seneca:
„Vermutlich ist der wohlhabende Spanier, der in Rom eine steile Karriere gemacht hat, der meistgelesene Stoiker überhaupt. Er bekennt sich zum Ideal der Gemütsruhe (ataraxia) und Gelassenheit (apatheia), verteidigit den Vorrang der Vernunft vor den Affekten, ist ein konsequenter Verfechter der Gleichheit aller Menschen und kritisiert vorsichtig die Sklaverei. Dass ihm das Schicksal aufbürdetete, als Prinzenerzieher Neros den grausamsten und verrücktesten aller römischen Kaiser zu erziehen, dürfte höchste Ansprüche an Senecas Fähigkeit zur Gelassenheit gestellt haben.“ |
– David Richard Precht, Eine Geschichte der Philosophie, 2015, S. 352, Wilhelm Goldmann Verlag
Über die Ausgeglichenheit der Seele: Senerus sucht Rat
„Indem wir lehren, lernen wir“, soll von Seneca stammen. Und so tritt er auch in der besagten Schrift als Lehrer oder Ratgebender auf und erteilt Seneca Ratschläge an Senerus, der sich mit der grundsätzlichen Fragestellung nach der Befähigung zur Gelassenheit an Seneca wendet.

Senerus stellt zunächst klar, dass er geltenden Grundsätzen etwas abgewinnen kann: „Es gefällt mir, dem Gebot unserer Grundsätze zu folgen und mich in den Trubel der Politik zu wagen […] um Freunden, Nahestehenden und allen Bürgern, überhaupt allen Mitmenschen mehr zu Diensten und nützlich zu sein“ (S. 9). Er hat sogar selbst eine Wunschvorstellung von einem guten Leben: „Mit sich selbst sei mein Geist befaßt, mit seiner Vervollkommnung, er treibe nichts ihm Fremdes, nichts, was sich dem Urteil anderer aussetzt, seine Liebe gehöre einer von Sorge um Eigenes und die Gemeinschaft freien Ausgeglichenheit“ (S. 9). Doch nichtsdestotrotz klingt sind seine Ausführungen von Pessismus geprägt, er fragt: „Wozu ist’s nötig, Jahrhunderte überdauernde Werke zu schaffen? Willst du nicht dies betreiben, dass die Nachwelt nicht über dich schweige? Um zu sterben, bist du geboren! Geringere Mühsal hat eine Beisetzung in Schweigen“ (S. 11). Senerus hinterfragt, warum sich überhaupt die Mühe machen solle, nach dem Verfassen großer Werke zu sterben, nur um in der Nachwelt noch im Gespräch zu bleiben. Der Tod folge unweigerlich auf die Geburt und warum bemühe sich der Mensch überhaupt, etwas aus seinem Leben zu machen? Er appeliert daher an Seneca: „Daher bitte ich dich: Wenn du dein Mittel weißt, meinem Schwanken abzuhelfen, dann glaube, ich verdiente es, dir die Ausgeglichenheit der Seele zu verdanken. Natürlich ist diese Ruhelosigkeit der Seele ohne Gefahr und verursacht keinerlei stürmischen Aufruhr. Um dir durch einen zutreffenden Vergleich die Ursache meiner Klage deutlich zu machen: nicht Sturmesbrausen, sondern die Seekrankheit schüttelt mich. Befreie mich also von diesem Übel, wie es auch darum stehen mag, und eile dem im Anblick des Landes Bedrängen zu Hilfe!“ (S. 13).
Senecas Thesen zur Gelassenheit
„Diese ruhige Gesetztheit nennen die Griechen Euthymia – über sie gibt es ein ausgezeichnetes Buch des Demokrit -, ich nenne sie Ausgeglichenheit der Seele. […] Unsere Frage richtet sich also darauf, wie der Geist immer in gleichmäßiger und glücklicher Bewegung verbleibe, mit sich in segensreicher Übereinstimmung stehe, sein eigenes Tun freudig betrachte und diese Freude nicht unterbreche, vielmehr in einem Zustand der Ruhe verharre, ohne je überheblich oder niedergeschlagen zu sein“ (S. 15), beginnt Seneca seine nun folgenden Ausführungen.
Alle seien in der derselben Lage: „Diejenigen, die ihre Oberflächlichkeit nicht zur Ruhe kommen lässt, ihr Überdruss und die Sucht, einen Beschluss zu ändern, denen immer mehr gefällt, was sie hinter sich haben, und diejenigen, die trübsinning dahindämmern […] Denke noch an jene, die nicht durch Mangel an Standhaftigkeit, sondern durch den ihrer Schwerfälligkeit zu wenig wendig sind: sie leben nicht, wie sie wollen, sondern wie sie begannen“ (S. 15).
Fortlaufend zu leben, wie man began. Mit einer überwältigenden Einfachheit arbeitet Seneca hier die Grundpfeiler einer erzkonservativen Lebenseinstellung heraus. Wer – um mit dem Konstruktivismus zu sprechen – seine bisherigen Stationen im Leben, seine bisherigen Einstellungen und Verhaltenweisen, niemals hinterfragt, reflektiert oder versucht diese aktiv zu verändern, wird ihnen für immer verhaftet sein.
Seneca geht weiterführend auf die Charakterzüge jenes umtriebenen Menschen ein: „Infolge dieser Abneigung gegen die Erfolge anderer und des mangelnden Vertrauens in die eigenen hadert der Geist dann mit dem Schicksal, klagt über den Zeitgeist, zieht sich in einen Schmollwinkel zurück und brütet nach über seinen Mißerfolg, voller Unzufriedenheit und Bitternis über sich selbst“ (S. 17).
Dauerhafte Angespannheit und Betriebsamkeit sind für Seneca ein Ausdruck eines krankhaften Zustandes: „Es ist ja der Geist des Menschen von Natur rührig und geneigt zur Betriebsamkeit. Willkommen ist ihm jeglicher Anlass, sich zu regen und aus sich herauszutreten“ S. (19). „Dies verrät einen kranken Menschen: Keinen Zustand lange ertragen zu können, sondern Änderungen wie Heilmittel anzuwenden“ (S. 19) und „Das Übel, an dem wir leiden, liegt nicht an den Orten, sondern ins uns“ (S. 19).
Jeder, soviel er kann
Für Seneca ist der Einsatz für die Gesellschaft ein wichtiger Aspekt für ein erfülltes Leben. Dabei unterscheidet er aber stark zwischen den Möglichkeiten des Einzelnen: „Denn nicht nur der nützt dem Gemeinwesen, der Amtsbewerber vorstellt, Angeklagte verteidigt und über Krieg und Frieden abstimmt, sondern wer die Jugend ermutigt, wer bei einem so drückenden Mangel an guten Lehren die Tugend einpflanzt, wer die Menschen bei ihrem Jagen und Hasten nach Geld und Überfluß festhält und sie zurückzieht, und wenn er sonst nichts erreicht, sie wenigstens hindert, der betreibt im privaten Kreis die Geschäfte der Gemeinschaft“ (S. 23). Weiter gelte es „zu überdenken, ob dein Charakter mehr für ein tätiges Leben oder für ein mußevolles Sichversenken und geistrige Betrachtung geeignet ist, und du musst dich neigen, wohin dich die Richtung deiner Begabung lenkt“ (S. 33), denn „Nur unter Druck gesetzt, entsprechen Begabungen den Erwartungen nicht: Wenn die Natur widerstrebt, bleibt das Mühen erfolglos“ (S. 35).
Interessant ist, dass Seneca es zur Tugend erklärt, die Menschen „bei ihrem Jagen und Hasten nach Geld und Überfluß“ festzuhalten und sie zurückzuziehen, da sich solch‘ ein Verhalten in einer auf Leistung ausgerichteten Gesellschaft wie der unseren kaum als gesellschaftliches Maxim erkennen lässt. Doch vielleicht ist dies auch Teil der Antwort auf die Disfunktionalitäten des Kapitalismus?
Von Schicksalschlägen und unerhofften Lebenswendungen solle man sich laut Seneca nicht entmutigen lassen: „Wenn das Schicksal übermächtig ist und die Möglichkeit zum Handeln abschneidet, dann sollte er sich nicht gleich waffenlos zur Flucht wenden, auf der Suche nach einem Versteck, so als ob es irgendeine Stelle gäbe, an die dich das Schicksal nicht verfolgen könnte, nein: vorsichtiger stelle er sich öffentlichen Aufgaben und finde mit Bedacht eine, um darin der Bürgerschaft nützlich zu sein“ (S. 27), denn „Niemals ist das Zupacken eines gutgesinnten Bürgers nutzlos“ (S. 29)
Eine deutliche Abgrenzung spricht Seneca gegenüber wehmütigen und pessimistischen Menschen aus: „Besonders aber meide man melancholische und in allem hoffnungslose Leute, denen jeder Anlass zu Klagen gelegen kommt“ (S. 37)
Die Rahmenbedingungen eines gesellschaftlichen Systems sollen laut Seneca nicht als Hinderungsgrund für eine bedachte und weise Lebenseinstellung gelten. Indem er Sokrates bemüht unterstreit Seneca, dass die Rahmenbedingungen keine Rolle dabei spielen: „Sokrates aber bewegte sch mitten unter den Bürgern, er tröstete die klagenden Väter, ermutigte die am Gemeinwesen Verzweifelnden; den Reichen, die um ihre Habe fürchteten, hielt er ihre verspätetete Reue über verderbenbringende Habsucht vor und stelle überall denen, die ihm nacheifern wollten, sein Beispiel vor Augen, bewegte er sich doch als freier Mann inmitten von dreißig Gewaltherren […] Trotzdem hat ihn eben dieses Athen im Gefängnis zu Tode gebracht, und es ertrug den Freimut des Mannes, der gefahrlos der Schar der dreißig Tyrannen gespottet hatte, die Freiheit nicht, so dass du weißt: in einem gedemütigten Gemeinweisen hat eine weiser Mann Gelegenheit, sich zu bewähren“ (S. 31).
Besitz, Wohlstand und Glück
„Das beste Maß für Vermögen ist dasjenige, das weder in den Zustand der Armut verfällt noch nicht weit davon entfernt.“ (S. 43)
In Bezug auf materiellen Besitz argumentiert Seneca, dass ein Mehr an materiellen Gütern und Besitztümern auch das Potential von Verlustängsten erhöht: „Deshalb musst man bedenken, ein wie viel geringerer Schmerz es ist, nichts zu besitzen als es zu verlieren, und wir werden einsehen, dass Armut um so weniger Anlass zu Qualen mit sich bringt, je weniger sie Verluste verursacht. Denn du irrst, wenn du glaubst, die Reichen ertrügen Schaden mutiger. Für sehr große Körper ist der Schmerz genauso schlimm wie für kleine.“ (S. 39) Besonders deutlich pointiert er dies mit einer Metapher: „Deshalb wirst du die Leute in größerer Freude sehen, die das Glück nie eines Blickes gewürdigt hat, als solche, die es verlassen hat“ (S. 39)
Die daraus gewonnene Ressource heißt Sorglosigkeit, die Seneca zu einem weiteren Maxim erklärt. Dabei hebelt er Anfeindungen von vornerein aus: „Nenne du dies Armut, Mangel und Not; gib der Sorglosigkeit irgendeinen Schimpfnamen“ (S. 39) Seneca fragt: „Wirst du einen für arm halten […] der sich aller Güter des Zufalls entledigt hat?“ (S. 39).
Weiterführend bemüht der römische Philosoph eine Geschichte um den asketisch lebenden Diogenes, die verdeutlichen soll, dass die Dinge Besitz von ihrem Besitzer ergreifen, wenn dieser sich zu fest an sie klammert: „Dem Diogenes entfloh sein einziger Sklave, und wenngleich man ihm sein Versteck mitteilte, hielt er es nicht der Mühe wert, ihn zurückbringen zu lassen. „Eine Schande wäre es“, meinte er, „dass Manes ohne Diogenes leben kann, nicht aber Diogenes ohne Manes“. Er scheint mir damit gesagt zu haben: „Walte nur, Schicksal, deines Amtes, bei Diogenes steht nichts mehr in deiner Macht! Ein Sklave ist mir entlaufen; gut, so habe ich mich auf freien Fuß gesetzt.““ (S. 41)
Fleiß und Lernen
Denkt man an die landläufige Vorstellung von „Fleiß“ und „Lernen“ steht eigentlich gar nicht zur Debatte, dass Fleiß und Lernen immer gut und steigerungsfähig sind. Niemand würde hier „Obergrenzen“ definieren, denn das erstrebenswerte in Fleiß und Lernen nimmt nicht ab, wenn man es (bis ins Unermessliche) steigert.
Interessanterweise macht Seneca aber darauf aufmerksam, dass auch hier „das Maß voll sein kann“. Er schreibt: „Belastung ist für den Lernenden das Übermaß, nicht Unterrichtung, und es ist viel besser, sich wenigen Autoren anzuvertrauen als sich durch viele verwirren zu lassen“ (S. 45)
Ein Gedanke, den ich im Rahmen des Studiums immer öfter hatte: Ist es wirklich sinnvoll, jeden Autoren zu lesen, anstatt sich Autoren anzuvertrauen, deren Schreibstil und deren Lebensauffassung gefällt? Ist es jedoch nicht gerade wichtig, sich NICHT in seinen Selbstbestätigungsmilieus zu bewegen, sondern sich auch einmal herauszufordern? Ich denke es ist wichtig, sich gegensätzliche Meinungen und Weltanschauungen auszusetzen, letztlich aber ruhig einen Weg für sich einzuschlagen und hier in die Tiefe zu gehen. Politisch betrachtet macht man sich ja auch für gewisse Standpunkte stark, während andere die Gegenseite einnehmen. Solange eine Balance erhalten bleibt, ist es daher nicht verwerflich, sein Gedankengebäude auf bestimmten Fundamenten zu entwerfen – auch, um nicht vom kleinsten Windstoß umgestoßen zu werden, weil das Fundament aus unterschiedlichsten Materialen besteht.
Außerdem spielt das Zeitmanagement in diesem Zusammenhang eine Rolle: Wenn ich alles mache, mache ich nichts richtig. Fokussierung spielt dabei eine entscheidene Rolle: „Diesen Gedanken, meine ich, hin Demokrit nach und so begann er: Wer ein ausgeglichenes Leben führen will, der nehme sich weder als Privatmann nocht als Politiker zu viel vor“ (S. 61).
Die Empfehlung, eine Balance zu finden, wird auch gegen des Ende noch einmal wiederholt: Auch soll man nicht den Geist in derselben Anspannung ohne Abwechslung halten, sondern ihn zu Scherz ablenken. […] Wie man fruchtbare Felder nicht ausbeuten darf […] ebenso wird dauernde Mühsal den Schwung des Geistes brechen. Ein wenig entlastet und entspannt wird der Geist seine Kraft erneuern. Es stellt sich auf unablässige Mühsale gleichsam Lähmung und Abstumpfung des Geistes ein“ (S. 75).
Ein effektives Zeitmanagement war bereits zu Senecas Zeiten en vogue: „So erinnern wir uns an den großen Redner Asinius Pollio, den keine Aufgabe über die zehnte Stunde hinaus in Anspruch nahm. Nicht einmal Briefe las er nach dieser Stunde, damit nicht eine neue Verpflichtung entstünde; nein, die Erschöpfung des ganzen Tages legte er in jenen zwei Stunden ab“ (S. 77).
Umgang mit Schwierigkeiten
„Bediene dich der Vernunft gegenüber den Schwierigkeiten! Härte kann gemildert, Enge geweitet werden, schwere Last den weniger bedrücken, der sie zu tragen weiß“, empfiehlt Seneca weiter (S. 49) und konstatiert: „Wir wollen das aufgeben, was entweder gar nicht oder nur mit Schwierigkeiten verwirklicht werden kann, und naheliegende, unseren Hoffnungen sich anbietende Ziele verfolgen, aber doch uns vergegenwärtigen, dass alles gleich unbedeutend ist, wenngleich es nach außen verschiedene Erscheinungsformen zeigt: sein innerer Wert ist gleich bedeutungslos. Wir wollen nicht die beneiden, die auf höhrer Stufe stehen. Was hochragend schien, ist in den Abgrund gestürzt“ (S. 49).
Bedeutet dies also, immer den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen? Ich glaube nein! Es geht eher darum, offensichtliche Probleme besonnen zu betrachten und auch einmal von ihnen abzulassen, anstatt sich vollends an ihnen abzuarbeiten. Dies gilt auch umgekehrt, denn Seneca empfiehlt:
„Immer unserem Aufstieg eine Begrenzung entgegenzusetzen, nicht dem Geschick die Entscheidung über Verzicht anheimzustellen, sondern selbst lange vorher innezuhalten. So werden einige Begierden unseren Geist beflügeln, aber, in Grenzen gewiesen, nicht ins Ungewisse und Unermeßliche führen“ (S. 51).
Denn auch auf einem Höhenflug verliert man womöglich das nötige Korrektiv aus den Augen. Wer zu stark auf eine (gute) Karte setzt, läuft Gefahr im Zweifelsfall sehr tief zu fallen. Denn Wandel und Veränderung gehört zum Leben. Zufriedenheit erschließt Seneca aus einer tugendhaften Dankbarkeit für jene Dinge, die uns einmal gelangen, auch wenn sie der Vergangenheit angehören: „Dank sage ich für den Besitz und die Habe von einst. Mit großen Aufwand habe ich deinen Besitz in Ordnung gehalten, aber, weil dus befiehlst, gebe, erstatte ich ihn gern, freudig zurück“ (S. 51). Denn „Der Augenblick einer Stunde liegt zwischen Thron und Kniefall“ (S. 55).
Vielmehr solle man aus der Not eine Tugend machen, wofür Seneca Zenon bemüht: „Als unser Zenon nach der Meldung vom Schriffsbruch hörte, all seine Habe sei in der Tiefe versunken, sagte er: Das Schicksal befiehlt mir, ungehinderter Philosophie zu betreiben“ (S. 63).
Gefühle, Trauer, Emotionen
Seneca bekennt sich dazu, dass der Mensch Mensch ist und kein perfektes Wesen. Die Bewertung von Situationen hängt von der jeweiligen Betrachtungsweise ab: „Menschlicher ist es, über das Leben zu lachen als zu jammern“ (S. 69).
Auch das Bekenntnis zu den eigenen Gefühlen spielt für Seneca eine wichtige Rolle. Hier schildert er einen gesellschaftlichen Zwang, dem sich viele Menschen unterwerfen und ihre eigenen Gefühle verkennen: „Die meisten vergießen Tränen, um sich zur Schau zu stellen, und tränenlos haben sie die Augen jedesmal, wenn kein Zuschauer da ist, weil sie es für eine Schande halten, nicht zu weinen, wenn alle es tun. So tief hat sich dieses Übel eingenistet, von der Meinung anderer abzuhängen, dass sogar der Schmerz, ganz spontanes Empfinden, zur Schauspielerei wird“ (S. 69). Zusammenhänge zu dem soziologischen Großwerk „Wir alle spielen Theater“ von Erving Goffman sind nicht von der Hand zu weisen.
Seneca spricht von ständiger Selbstbeobachtung, durch die wir uns selbst zu Opfern des eigenen Denkens machen: „Es ist auch dies eine nicht leichtzunehmende Ursache von Bekümmernissen, wenn du dir ängstlich eine Rolle aufzwingst und dich niemandem einfach so, wie du bist, zeigst – ein Lebensstil der Unaufrichtigkeit und der Schauspielerei, wie ihn viele pflegen. Zur Qual wird nämlich ständige Selbstbeobachtung: da fürchtet einer bei einem anderen als seinem gewöhnlichen Gebaren ertappt zu werden. Wir werden die Sorge nie los, wenn wir uns so oft beurteilt wie beobachtet fühlen. […] Es ist besser, aufgrund schlichter Lebenseinstellung herabgesetzt als wegen dauernder Verstellungskunst gequält zu werden“ (S. 73).
Die Quintessenz ist deutlich: Es ist egal, was „die Anderen“ sagen. Warum sollte man seine Kräfte für die Verstellungskunst vergeuden, anstelle den eigenen Einstellungen freien Lauf zu lassen? Wenn ich dabei an meine dörflich lebende Großelterngeneration denke (und vermutliche hunderte Generationen davor), hätten diese sich von Seneca inspirieren lassen können, denn „was die anderen denken“ war dort prägend. Ich glaube es war Foucault, der den Vergleich aufstellte: Die Menschen leben in einem fiktiven Gefängnis aus Glas, durch das die Bewacher sie dauerhaft beobachten. Das führt zur dauerhaften Verstellungskunst, die Seneca schon bemängelt hat.
Auch im Umgang mit seinen Mitmenschen rät Seneca zur Vorsicht: „Oft muss man wieder zu sich selber zurückfinden. Das Gespräch nämlich mit andersgearteten Menschen verwirrt das innere Gleichgewicht, ruft Leidenschaft wieder wach und reißt alle Schwächen unseres Geistes und nicht ausgeheilte Wunden wieder auf. Dennoch muss man diese Verhaltensweisen verbinden und mieinander abwechseln lassen: Einsamkeit und Geselligkeit. Jene wird in uns die Sehnsucht nach Menschen wecken, diese nach uns selbst, und es wird die eine das Heilmittel für die andere sein: die Einsamkeit heilt die Ablehnung der Menge, die Menge den Überdruß an Einsamkeit“ (S. 73). Auch hier lässt sich wieder das Credo der Balance erkennen: Nicht in eines der Extreme abdriften, sondern bewusst zwischen dem einen und dem anderen wechseln.
Der Weg zur Gelassenheit nach Seneca
Gegen Ende seiner Niederschrift zitiert Seneca Platon mit den Worten „Vergeblich klopft an die Tore der Dichkunst, wer in sich ruhe“ und ebenso Aristoteles: „Kein großes Genie gab es ohne einen Anflug von Wahn“ (S. 79), um dann in eigenen Worten zu unterstreichen, dass Gelassenheit (und womöglich auch dadurch erwachsende Kreativität) nicht durch Monotonie erreicht werden kann: „Lossagen soll er sich von Alltäglichem, sich emportragen lassen, seine Zügel durchbeißen, seinen Wagenlenker emporreißen und dahin tragen, wohin aufzusteigen er sich selber nicht zugetraut hatte“ (S. 79).
Als abschließendes Fazit, welches „De tranquillitate animi – Über die Ausgeglichenheit der Seele“ in meinen Augen sehr gut zusammenfasst, hinterlässt Seneca folgende Passage:
„Wir wollen uns daran gewöhnen, Prunk von uns fernzuhalten und als Maß den Nutzen der Dinge, nicht ihren Glanz zu nehmen. Die Nahrung befriedige unseren Hunger, der Trunk unseren Durst und das Triebleben finde nur im Maße des Notwendigen seine Befriedigung. Wir wollen lernen, auf eigenen Beinen zu stehen, unseren ganzen Lebensstil nicht nach modischen Vorbildern auszurichten, sondern so, wie es die Gesittung der Vorfahren nahelegt. Wir wollen lernen, unsere Selbstbescheidung zu festigen, Genußsucht einzuschränken, das Streben nach Anerkennung zu mäfligen, den Zorn zu dämpfen, Armut mit den Augen der Gleichmut zu betrachten, den Sinn für Schlichtheit zu pflegen, auch wenn viele sich dessen schämen, den natürlichen Wünschen mit um geringen Preis erworbenen Mitteln der Abhilfe zu begegnen, ungezügelte Hoffnungen und einen auf die Zukunft gerichteten Geist gleichsam in Fesseln zu halten, danach zu handeln, daß wir Reichtum eher von uns als vom Schicksal erwarten“ (S. 43).
Unglaublich, wie passend diese Gedanken auf unsere heutige Zeit bezogen werden können. Mit der Vermarktlichung aller Lebensbereiche ist das Erfolgssterben und die Profitgier immer allgegenwärtiger – und es ist an uns Menschen diesem Paradigma mit einer zeitgemäßen Philosophie zu begegnen. Lucius Annaeus Seneca hat dazu bereits vor über 2000 Jahren einen wertvollen Beitrag geleistet!
Lebenspraktische Take-Away’s
- Das Leben ist gleichmäßige Bewegung – Balance zwischen Schaffen und Muße
- Momente auf sich wirken lassen – zu „ertragen“ lernen
- Finde heraus, was zu deinem Charakter passt
- Nicht jede Gesellschaft ist gute Gesellschaft
- Sich nicht zu lange an Problemen aufhängen
- Mehr Reichtum -> Mehr Verantwortung -> Mehr Angst
- „Die Anderen“ sollten nicht das eigene Leben diktieren
„Vermutlich ist der wohlhabende Spanier, der in Rom eine steile Karriere gemacht hat, der meistgelesene Stoiker überhaupt. Er bekennt sich zum Ideal der Gemütsruhe (ataraxia) und Gelassenheit (apatheia), verteidigit den Vorrang der Vernunft vor den Affekten, ist ein konsequenter Verfechter der Gleichheit aller Menschen und kritisiert vorsichtig die Sklaverei. Dass ihm das Schicksal aufbürdetete, als Prinzenerzieher Neros den grausamsten und verrücktesten aller römischen Kaiser zu erziehen, dürfte höchste Ansprüche an Senecas Fähigkeit zur Gelassenheit gestellt haben.“